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Das Huhn im Truthahnpelz Von Ralf Sotscheck

Beinahe wäre die Sache schiefgegangen. Vorigen Dienstag feierte Irland Nollaig na mBan: Frauenweihnacht. Der Tag heißt so, weil die Ehefrauen schon wieder einen Truthahn braten müssen, während die Männer im Pub einen kleinen Aperitif zu sich nehmen. John wollte es diesmal anders machen. Er bestellte das Großgeflügel beim Fleischer, lud die halbe Verwandtschaft ein und war fest entschlossen, die Zubereitung selbst zu übernehmen. Da er kein Auto besitzt, bat er mich, das schwere Tier am Vortag abzuholen und zu ihm nach Hause zu transportieren. Er gab mir den Hausschlüssel, weil er erst nachmittags aus dem Büro kommen würde.

Gesagt, getan. Leider ritt mich im Fleischerladen der Teufel, und ich kaufte außerdem ein erbärmlich aussehendes Hühnchen zum Sonderpreis von fünf Mark. Das legte ich auf Johns Küchentisch, daneben einen Zettel: „Der Fleischer sagte, es seien nur relativ kleine Truthähne von Weihnachten übriggeblieben.“ Das echte Tier schob ich hinter die Couch und drückte sie wieder fest an die Wand, was ein knackendes Geräusch auslöste.

Am Nachmittag rief John hellauf entsetzt an: „Wir sind morgen sieben Leute zum Essen, und diese verdammte Pute ist kaum größer als ein Hühnchen. Wo soll ich denn morgen früh ein Ersatztier auftreiben? Was hast du für den Murkel eigentlich bezahlt?“ Er sei sehr billig gewesen, weil er nicht ganz die Standardgröße erreicht habe, sagte ich. „Standardgröße“, japste John, „das Vieh muß geschlachtet worden sein, kurz nachdem es ausgeschlüpft ist.“ Er solle eben etwas mehr Gemüse und Kartoffeln kochen, riet ich ihm.

Eine halbe Stunde später bekam ich Gewissensbisse und rief John an, der inzwischen einen Sack Kartoffeln geschält hatte, um die Gourmet-Verwandtschaft am nächsten Tag satt zu bekommen. Der richtige Vogel sei hinter der Couch versteckt, verriet ich ihm. Sein Aufschrei klang nicht erleichtert, wie ich erwartet hatte, sondern vielmehr panisch. Das letzte, was ich hörte, bevor er den Hörer aufknallte, war: „Die verdammte Katze! Sie ist vor zwanzig Minuten mit einer Serviette hinter der Couch verschwunden!“

Dann wurde es doch noch ein schönes Essen. Die Bißwunden hatte man mit Hilfe eines Messers kaschiert. Das Hühnchen geriet in Vergessenheit. Es lag unter der Spüle, weil im Kühlschrank kein Platz gewesen war. Am Wochenende machte sich leichter Verwesungsgeruch im Haus breit. Das tote Geflügel hatte bläuliche Beinchen und war voller Maden, so daß es fast von ganz alleine zur Mülltonne laufen konnte. Nicht mal die Katze zeigte Interesse an dem Tier.

Wenigstens hat John mich nicht verklagt. Das ist in Irland zu Zeit üblich – wenn man Soldat ist jedenfalls: Die irische Armee plündert gerade das Budget des Verteidigungsministeriums auf Jahre hinaus. Von den 12.000 Soldaten haben 11.000 auf Schadensersatz geklagt, weil sie durch fünf Stunden Schießübungen im Jahr allesamt und schlagartig taub geworden sind (siehe vorigen Montag). Am Wochenende ist nun eine Einheit, die für die UN im Libanon stationiert ist, ebenfalls vor Gericht gezogen: Die Soldaten hatten eine private Grillparty gefeiert und sich dabei eine Lebensmittelvergiftung zugezogen. Wahrscheinlich war's ein blaubeiniges Hühnchen.

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