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Großmeister nährt Hoffnungen

Nach Anatoli Karpows Titelverteidigung bei der FIDE-WM gegen Anand spricht der umschmeichelte IOC-Chef Samaranch erstmals vom Schach als Sport  ■ Aus Lausanne Hartmut Metz

Anatoli Karpow machte gute Miene zum bösen Spiel. „Wir danken den Herren Kasparow und Anand für ihre tollen Partien“, hatte sich soeben der Moderator der Schlußzeremonie verhaspelt. Selbst am Freitag abend bei der Siegerehrung der Schach-Weltmeisterschaft in Lausanne warf sein russischer Erzfeind, der sich 1993 vom Weltverband FIDE losgesagt hat und seitdem den Titel seiner mittlerweile finanziell maroden Profischachorganisation PCA trägt, einen langen Schatten. Angesichts von 1,7 Millionen Mark Preisgeld focht Karpow der verbale Tiefschlag ebensowenig an wie die Sympathiekundgebungen der Fans. Sie feierten bei der Übergabe der Silbermedaille ihren Liebling Viswanathan Anand, auch wenn der im Tie-Break dem alten und neuen Champion mit 0:2 unterlegen war.

Bereits am Donnerstag hatten die Schachfreunde den 3:3-Ausgleich, mit dem der Inder die erste Schnellschach-Entscheidung in der WM-Geschichte erzwang, mit stehenden Ovationen und „Bravo“-Rufen quittiert. Der 46jährige Russe mußte sich hingegen bei seinem 143. Turniererfolg mit spärlichem Applaus bescheiden. Die Schachspieler in aller Welt hatten auf eine neue Ära und das Ende der „Anarchie“, wie Anand den Zustand des Denksports charakterisiert, gehofft. Statt dessen geht mit Karpows sechstem Sieg bei elf Weltmeisterschaften die K.u.K.-Monarchie ins 23. Jahr. Mit seinem Erfolg schwand die Hoffnung auf eine Vereinigung des Titels mit dem Weltranglistenersten Garri Kasparow, der den erstmals im K.o.-System ausgetragenen Wettbewerb boykottierte.

„Ich bin froh, daß ich das Duell mit Anand überstanden habe. An ein Match gegen Kasparow verschwende ich heute bestimmt keinen Gedanken“, erklärte Karpow. Sein Rivale hatte zuvor ebenfalls einen Kampf abgelehnt: „Karpows Zeit ist vorbei. Er zählt nicht mehr zu den sechs besten Spielern der Welt.“ Diesen Beweis blieb jedoch der Weltranglistendritte Anand schuldig. „In der ersten Partie hatte ich Glück“, gestand Karpow und setzte fort, „aber in der zweiten spielte mein Gegner sehr schwach.“ Der in den Schnellschach-Partien mit 25 Minuten Bedenkzeit (plus zehn Sekunden für jeden ausgeführten Zug) unterlegene Herausforderer kann nur die dreiwöchige Qualifikationstortur im niederländischen Groningen als Entschuldigung anführen. Während der 28jährige Inder am Schlußtag nervlich zusammenbrach, hatte der 18 Jahre ältere Routinier vor dem Tie-Break in aller Ruhe Vögel am Genfer See gefüttert.

Enttäuscht wie die Fans verließ Anand nach der Niederlage das Olympische Museum. Im ersten Moment war selbst eine Million Mark Preisgeld ein schwacher Trost für die vertane Chance, der 14. Weltmeister der 112jährigen Schach-Geschichte zu werden. Bei der Schlußzeremonie, zu der als Ehrengast Michail Gorbatschow einflog, konnte der Inder wieder schmunzeln. Ob es daran lag, daß er einen neuen Kollegen begrüßen durfte? „Ich spiele nur ab und an mit Freunden, bin aber kein Experte. Ich schätze Schach als eine kulturelle Aktivität und als Sport, bei dem man intelligente Leute trifft“, erklärte WM-Schirmherr Juan Antonio Samaranch. Trotz mangelnder Spielstärke verlieh FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow dem Oberhaupt des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) den Großmeistertitel. Durch die höchste Auszeichnung hofft das königliche Spiel auf die weitere Unterstützung des mächtigen Spaniers, um im nächsten Jahrtausend olympische Sportart zu werden.

Vor allem das von Samaranch erstmals im Zusammenhang mit Schach in den Mund genommene Wort „Sport“ machte Iljumschinow glücklich. Die von einem belgischen Institut erstellte wissenschaftliche Untersuchung, die der 35jährige kalmückische Staatschef in Auftrag gegeben hatte, überzeugte wohl den IOC-Präsidenten. Die Quintessenz des 140seitigen Papiers: Schach zählt zu den zehn Sportdisziplinen, die den „größten Streß und die meisten Gefühle hervorrufen“. Nun scheint nur noch eine Hürde auf dem Weg zum Ziel zu stehen. „Das IOC wird dem engagierten jungen FIDE-Präsidenten helfen, olympische Sportart zu werden“, versprach Samaranch, schrieb jedoch gleichzeitig dem Weltverband ins Stammbuch, „unabdingbare Voraussetzung hierfür ist die Vereinigung des Weltmeistertitels!“ Da war er wieder, der lange Schatten Kasparows.

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