: Pilawas Palaver
■ "Jörg Pilawa" - jüngster Sproß im Gebüsch des talktäglichen Medienwaldes (11 Uhr, Sat.1)
Der Mediendschungel wuchert. Es rauschen die Blätter, es flimmern die Bilder. Laut brummt die Spezies der tagtäglichen Talkshows. Bereits seit Anfang der 90er im Unterholz der massenmedialen Fernsehunterhaltung angesiedelt, schießen die Talkgewächse aus dem meist dünnsinnigen Dickicht. Das jüngste trägt den Namen Jörg Pilawas – doch dazu später.
Interessanter nämlich als das einzelne Exemplar – ohnehin gleicht eins dem anderen – ist die florale Gattung als Ganzes. Da lohnt es, einen kundigen Botaniker zu konsultieren. Niklas Luhmann beispielsweise. In seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“ (Westdeutscher Verlag 1996) hat der Soziologe den Medienwald systemtheoretisch durchforstet. Unter Luhmanns Optik erscheint das Gestrüpp als soziales System, das sich selbst herstellt und organisiert – und damit eine Art Eigenrealität produziert. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, lautet der lapidare erste Satz des Luhmannschen Medienbuches.
Auf diese Weise haben die Täglichtalks einen eigenen Sektor des Medienterrains für sich erobert. Jeder kennt die Schnatterstunden von Arabella (Pro 7), Fliege (ARD), Vera und Sonja (Sat.1), Meiser, Christen und Schäfer (RTL). Verwunderlich, daß sich der Trend zum Thementalk noch nicht totgelaufen hat – schließlich herrschen bereits akute Beschaffungsprobleme: Allein die Aufzeichnungsstudios im Bereich Köln benötigen eine jährliche Zuschauerzufuhr in Millionenhöhe. Ohne Massen keine Massenmedien. Und auch die Quellen der Talkgäste und -themen(variationen) könnten einmal versiegen. Zwischen 1994 und 2000 werden sich immerhin über 100.000 Mitteilungsbedürftige zu 13.000 Themen wie „Igitt! Mein Mann pinkelt im Stehen!“ oder „Mach hin! Ich will Enkelkinder!“ geoutet haben. Doch das Talksystem weiß sich zu helfen, indem es das „Normalverhalten“ einfach selbst verabsonderlicht. So philosophierte „Vera am Mittag“ bereits zum Thema „Ich liebe ganz normalen Sex – bin ich krank?“
Wahrscheinlich sind die Talkmedien deshalb so peinlich darauf bedacht, Peinliches zu präsentieren, weil einseitig-fundamentale Weltsichten out sind. Statt dessen herrscht ein Bedarf nach authentischen, „abweichenden“ Realitäten. Das ist dann die Freiheit, die Talkfans meinen: Über die vergleichende Beobachtung anderer Beobachtungen beobachten sie ihre eigene Individualität. Schließlich ermöglicht, so Luhmann, die Unterhaltung „eine Selbstverortung in der dargestellten Welt“.
Dieser schönen neuen Quasselwelt gehört nun auch Jörg Pilawa an. Der Hamburger Sonnyboy hat bereits Sendungen wie „Hast du Worte?!“, „Das Goldene Ei“ oder „täglich ran“ moderiert. Nun braucht Pilawa eine Menge Worte, um sein goldenes Talk-Ei auszubrüten, denn nun darf er tatsächlich täglich ran. Ab heute flimmert seine Talkshow, anstelle von Johannes B.s „Kerner“, mit dem branchenüblichen Visitenkartentitel „Jörg Pilawa“ allmorgendlich durch deutsche Wohnzimmer.
Will Pilawa das Konzept des prominenten Vorgängers fortführen? „Natürlich wird sich meine Show verändern“, postuliert Pilawa, „auch wenn Talk immer Talk bleibt.“ Aber jetzt talkt eben Pilawa. Tatsächlich steht der Strahlemann seinen Plaudertaschen-Kollegen schon in Sachen gekünstelter Natürlichkeit um nichts nach. Die Beschwörungen des Sat.1-Unterhaltungschefs Henning van der Osten, Pilawa sei „glaubwürdig“ und „natürlich“, bestätigen dies nolens volens. Und belegen, daß die Massenmedien ihre selbstentworfenen, telegenen Subjekte und Sujets weiter anzapfen und ausbauen. So bleiben auch die Themen von „Jörg Pilawa“, etwa „Nicht gewollt! Ich habe jemanden umgebracht“, ganz gewollt im Rahmen des Erprobten.
Darüberhinaus symbolisiert der 32jährige Schwatz-Newcomer aber auch phonetisch die Selbstbezüglichkeit der Talkwelt: Jörg Pilawas Palaver artikuliert sich quasi selbst – und paßt damit bestens in den Trend des Mediensystems zur Selbstumkreisung: „Ich hock' in jeder Talkshow“, gestand man bei „Sonja“ im Dezember, „Kerner“ lud zum Abschiedstalk am 16. Januar Oberschwadroneure wie Vera int Veen, Jürgen Fliege und – last not least – Jörg Pilawa zum Metathema „Ich moderiere eine Talkshow“ (siehe „Standbild“). Eines Tages wird Jörg Pilawa in „Jörg Pilawa“ über das Thema „Jörg Pilawa über das Thema ,Jörg Pilawa‘“ palavern. Dann wird sich endgültig ein separates Plappergebüsch im Medienwald formiert haben. Christian Schuldt
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