: Musik für Mönche
■ 395. Dacapo-Konzert im Überseemuseum: Herbert Henck meditiert am Klavier mit Hilfe John Cages „Sonatas“
Wen haben als Kind nicht Mutters Zauberkünste verwirrt und ergötzt? Behauptete sie doch immer, die geliebten Pfannkuchen seien aus ekligen Sachen wie rohen Eiern und staubigem Mehl fabriziert – absolut unglaublich. An diese längst vergessenen Verwandlungskunststücke erinnerten später, viel später die Klavierpräparationen John Cages. Der nämlich verzauberte einen stattlichen schwarzen Flügel unter Mithilfe von 45 billigen Mickerigkeiten in silbrige Glockenspiele, dumpfe Trommeln, Xylophone und Gongs. Wie kann eine Stahlsaite ähnlich klingen wie eine Metallscheibe? Erlauben so etwas überhaupt unsere Newtonschen Gesetze? Egal. Jedenfalls war Herbert Henck für die Interpretation von Cages „Sonatas und Interludes“ausgerüstet mit einem kleinen, blauen Plastikwerkzeugkasten. Zwischen die Saiten eines alten Bösendorfers klemmte er Stahlschrauben, bunte Plastikplättchen, liebevoll aus Radiergummi „geschnitzte“Mini-Keile und ganze Radiergummis. Es handelte sich um Pelikan- und Läuferradiergummis. Aber das ist hier an dieser Stelle vielleicht nicht so wichtig.
Art und Plazierung der eingeschleusten Fremdkörper wurden von Cage genau festgelegt. Zwar unterscheidet sich der erzielte Verfremdungsgrad von Flügel zu Flügel, von seinem Konzept der Musik als Nachweis der „Praktikabilität von Anarchie“war er aber doch noch weit entfernt. Erst später, etwa im Pianoconcerto oder Musicircus, stellte er immer mehr Faktoren zur freien Disposition der Interpreten, von der Zahl der Spieler über die Reihenfolge der Partiturseiten bis zur Überlagerung transparenter Notenblätter. Demgegenüber ist die Notation der Sonatas konventionell. Aber auch sehr luftig, mit vielen einstimmigen Passagen und noch mehr Pausen. So wird der Hörer niemals von reißenden Musikströmen überschwemmt, steht draußen, wahrt Distanz: Musik als Meditation, nicht unähnlich dem katholischen Rosenkranz. Schließlich spielen auch bei den Sonatas Wiederholungen eine gewisse Rolle.
Weil Hencks Heimwerkerausrüstung nicht nur das Obertonspektrum der Klaviertöne verändert, Töne verkürzt und so Legatospiel also auch traditionelle Herzschmerz-Intensität verhindert, sondern darüber hinaus auch noch dämpfend wirkt wie eine Hand vorm gähnenden Mund, entschied sich der Veranstalter zur Tonverstärkung durch Mikro und Lautsprecher. Eine ausgemachte Skrupellosigkeit, die aber bei einem skrupellosen Komponisten wie John Cage sicherlich in Ordnung geht. Zumal der schließlich mal Thoreaus „Pflicht zum Ungehorsam“vertont hat und seit Imaginary Landscape Nr. 1 (1939) auch gelegentlich mit elektronisch verstärktem Klavier arbeitet. Natürlich könnte man bei „Sonatas und Interludes“auch auf der Auslotung des Grenzbereichs zwischen Stille und Ton beharren. Aber was könnte man heutezutage nicht alles?
Wenn John Cages legendäre 4 Minuten 33 Sekunden Stille angeblich inspiriert waren von einem monochromen weißen Rauschenberg-Gemälde, dann könnten die Sonatas eigentlich doch Bezug nehmen auf jene weißen und hellgrauen Ver-ästelungen Mark Tobeys, die sich ebenso üppig wie unaufgeregt über die Leinwand ranken. Beide sind ebenso feinstrukturiert wie ruhig. Überhaupt: Große Teile der amerikanischen Maler- und Komponistenriege der Nachkriegszeit waren beeindruckt vom Buddhismus und verblüfften mit ihren seltsam unspektakulären Erleuchtungen das zerbombte Europa.
Die Sonatas baden in schlichter Tonalität, aufgerauht durch ein paar Sekunden hier und da. Immer wieder fällt die Musik ein in einfache Schaukel- und Pendelbewegungen, die ein bißchen an frühklassische Albertibässe erinnert. Nur: Bei Cage firmieren sie nicht als schnöde Begleitfiguren, sondern dürfen ganz für sich stehen. Den großen, emotionalen Gesang des abendländischen Individuums braucht es da gar nicht mehr. Wenn dann doch eine Melodie auftaucht, kommt sie bescheiden und zerbröselt daher.
So ist es denn kein Wunder, daß im Überseemuseum ein paar Zuhörer mit den Füßen wippten, als gäbe es Jazz im Angebot. Andere lauschten mit geschlossenen Augen. Und Henck regierte über den Flügel wie ein stoischer, abgekläreter ZEN-Meister. bk
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen