: Die Türkei im Konflikt zweier Traditionen
Nützliche neue Bücher über den widerspruchsvollen Weg des Landes von Atatürk bis zu Erbakan, vorgestellt von ■ Jürgen Gottschlich
Woher kommt die Türkei, wohin geht sie, und zu wem gehört sie? Seit Ende letzten Jahres der Streit um eine Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union eskalierte, seit es auch auf der Konferenz der islamischen Länder in Teheran zu einem Eklat kam und vor allem, seit das türkische Verfassungsgericht vor zwei Wochen die islamische Wohlfahrtspartei, die größte Partei des Landes verbot, werden diese Fragen auch in Deutschland mit wachsendem Interesse gestellt. Plötzlich ist die innere Verfaßtheit das Landes ein Thema, wird die geistige Lage der türkischen Nation zum Ausgangspunkt für ängstliche Spekulationen: Steht eine Radikalisierung der Islamisten bevor, drohen algerische Verhältnisse? Müssen wir uns auf einen Krisenherd von bislang kaum gekannten Ausmaßen einstellen?
Drei Bücher, zwei davon gerade erschienen, können bei der Antwort auf diese Fragen weiterhelfen. Da ist einmal „Café Istanbul“. Der Titel täuscht etwas, denn bei dem Buch handelt es sich nicht um eine lockere Sammlung von Kneipengesprächen, sondern um eine knochentrockene soziologische Abhandlung. Die ist dafür aber vom Feinsten. Der Autor Günter Seufert arbeitet am Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul und ist ein langjähriger, intimer Kenner des Landes. „Café Istanbul“ heißt das Buch, weil der Ausgang der soziologischen Studien ein Café an einem der zentralen Plätze des historischen Istanbul ist, dort wo Universität und Basar aufeinandertreffen. Seufert wollte wissen, warum der politische Islam in der Türkei ausgerechnet jetzt, wo westliche Kultur via Medien und Moden zumindestens in den Großstädten des türkischen Westen boomt, so eine Konjunktur hat.
Der zweite Band, „Der lange Abschied von Atatürk“, ist eine Artikelsammlung von Ömer Erzeren, unter anderem Korrespondent dieser Zeitung in Istanbul. Es zeichnet über einen Zeitraum von sechs Jahren die Brüche in der türkischen Gesellschaft nach. Der Aufstieg der Islamisten in einem letztlich vom Militär beherrschten Land, das – von oben säkularisiert – sich angesichts der endemischen Krise mehr und mehr in eine islamische Heilserwartung flüchtet. Erzeren versammelt mit seinen Artikeln Schlaglichter auf die Gesellschaft, die die Analyse Seuferts anschaulich ergänzen.
Bereits vor drei Jahren erschienen, aber als Hintergrundinformation sehr nützlich ist die Geschichte des Osmanischen Reiches von Wolfgang Gust, „Das Imperium der Sultane“. Vor allem der Niedergang des Imperiums am Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts und die Rolle, die die westlichen Mächte dabei spielten, ist zum Verständnis der gegenwärtigen Situation unerläßlich. Die Ambivalenz im Verhältnis zum technisch überlegenen und materiell so viel besser ausgestatteten Westen, der Wunsch, dazuzugehören gemischt mit der mehr oder minder bewußten Wut auf die Sieger der Geschichte sind der psychologische Background für die heutigen Identitätskrisen der türkischen Gesellschaft.
Die türkische Gesellschaft, so die Diagnose Günter Seuferts, ist zutiefst verunsichert. Von Feinden umgeben, vom reichen Westeuropa seit Jahren auf demütigende Distanz gehalten, erweist sich die Geschichte als Quelle wärmender Erinnerung. Der langsame Abschied von Atatürk führt auf den Weg zurück in die Zeit vor der Republik. Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, hatte der türkischen Gesellschaft eine völlige Amnesie verordnet. Die Verbindungslinien zum Osmanischen Reich wurden radikal gekappt, das Kalifat aufgelöst und die Einführung der westlichen Moderne von oben verordnet. Seitdem, seit 1924, befindet sich das Land ideologisch auf dem Weg nach Westen – mehr und mehr von dem Gefühl beherrscht, nie dort anzukommen.
Als Erklärung für den Mißerfolg dient immer häufiger – selbst bei erklärten Laizisten – der Gegensatz zwischen dem christlichen Westen und der islamischen Türkei. Atatürk domestizierte den Islam zu einem staatlich streng kontrollierten Gebetsritual, zu einer Tradition, die politisch keine Rolle mehr spielte. Der Volksglaube blieb dennoch präsent; letztlich war die sunnitische Prägung des Islam, der rund 80 Prozent der Bevölkerung anhängen, die Staatsreligion der Republik.
Das Dilemma der türkischen Republik, darin sind sich Seufert und Erzeren einig, ist der Mangel an Zivilgesellschaft. Das bezieht sich nicht nur auf die Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft. Der türkische Generalstab ist nur zugespitzter Ausdruck einer patriarchalischen Struktur. Das Militär kann sich nur deshalb als Siegelbewahrer des Kemalismus aufspielen, weil dieser, genau wie vorher der Islam, seinen Bürgern vorschrieb, wie sie sich zu verhalten haben. Der Staat regelt die Belange der Bürger bis in die Privatsphäre, er ist tendenziell totalitär in demselben Sinn wie der politische Islam auch. Zivile Institutionen sind rar, Pluralismus und Selbstbestimmung sind der kemalistischen Gesellschaft so fremd wie der islamischen.
Die Ironie der Geschichte ist, daß erst die kemalistischen Militärs dem politischen Islam den Weg zurück an die Macht geebnet haben. Zur Bekämpfung der Linken, vor allem unter den Jugendlichen, schickte das Militär den Koran an die Schulen zurück und akzeptierte nach dem Putsch 1980 einen Ministerpräsidenten Özal, der aus dem islamischen Lager kam. Das funktionierte in den 80er Jahren prächtig, tatsächlich wurde die orthodoxe Linke – auch angesichts des Niedergangs des Staatssozialismus in der unmittelbaren Nachbarschaft – in die völlige Bedeutungslosigkeit gedrängt.
Erst in den 90er Jahren wurde der politische Islam für das kemalistische Establishment zu einem Problem. Die Zauberlehrlinge wurden die Geister, die sie einst riefen, nicht mehr los. Erbakans islamistische Wohlfahrtspartei wurde von Wahl zu Wahl stärker, bis sie plötzlich 1996 den Ministerpräsident stellte.
In der Konkurrenz zwischen Kemalismus und Islamismus aber droht Allah zu siegen. Das hat mit dem Bürgerkrieg in Kurdistan zu tun, mit der Flucht vom Land in die städtischen Zentren und den gebrochenen kemalistischen Versprechen von Wohlstand und Sicherheit. Aber eben auch damit, daß das Staatsverständnis von Kemalisten und Islamisten häufig nur eine der beiden Seiten derselben Medaille darstellte. Beide konkurrieren darum, mittels des Staates ihr System den Untertanen überzustülpen.
Per Verbot ist die islamische Wohlfahrtspartei nun erst einmal aus dem Rennen geworfen worden, aber damit ist ihr Potential keineswegs verschwunden. Es wird eine neue islamische Partei geben, wahrscheinlich sogar mehrere. Bislang hat die Wohlfahrtspartei die unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der islamischen Bewegung zusammengehalten, das könnte sich jetzt ändern. Ein Teil der Traditionalisten wäre sicher zu einem Konkordanzvertrag mit dem kemalistischen Staat bereit, es besteht aber durchaus die Gefahr, daß ein Teil sich radikalisiert und in den Untergrund geht.
Trotzdem ist die Türkei mit Algerien oder den anderen arabischen Ländern kaum vergleichbar. Das Land ist objektiv näher an Europa. Das Osmanische Reich hat seine wichtigsten Eroberungen auf dem Balkan gemacht und war streckenweise durch Wesire vom Balkan geprägt. Obwohl der Kemalismus im Kern antipluralistisch ist, hat sich ein Teil des wohlhaberenden, gut ausgebildeten städtischen Bürgertums von der ideologischen Bevormundung emanzipiert. Als im letzten Jahre die Affäre „Susurluk“ ruchbar wurde und mit ihr immer mehr über die Verstrickung von Staat und Mafia ans Licht kam, protestierte ein großer Teil der Gesellschaft unabhängig von den kemalistischen und islamistischen Parteien.
Ein Teil des türkischen Unternehmertums drängt auf eine Modernisierung der verkrusteten Strukturen und ist im Hintergrund daran beteiligt, eine moderne bürgerliche Partei ins Leben zu rufen. Auch der Krieg in Kurdistan stößt in der Gesellschaft auf immer größeren Widerstand. Selbst innerhalb der islamischen Bewegung hat Seufert eine Strömung ausgemacht, die sich für den Aufbau einer „muslimischen zivilen Gesellschaft“ einsetzt und sich dabei auf die sogenannte erste Verfassung des Islam, einen noch von Mohammed selbst ausgehandelten Vertrag zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen in Medina, beruft.
Was heißt das nun für den weiteren Weg der Türkei? Potentiell ist fast alles möglich. Es kann eine weitere militaristische Verhärtung mit einem andauendernden Kleinkrieg geben, es kann zu einer Art Symbiose zwischen Kemalismus und Islam, vermittelt über das Türkentum, kommen auch eine Demokratisierung der Parteienlandschaft ist nicht ausgeschlossen. Die Türkei wird wohl immer in verschiedenen gesellschaftlichen Formationen leben. Welche jeweils dominiert, hängt aber nicht zuletzt davon ab, wie der Westen sich zu dem Land verhält.
Günter Seufert: „Café Istanbul“. 1997, Becksche Reihe, 200 Seiten, 19,80 DM
Ömer Erzeren, „Der lange Abschied von Atatürk“. 1997, ID-Archiv, 180 Seiten, 28 DM
Wolfgang Gust: „Das Imperium der Sultane“. 1995, Hanser Verlag, 414 Seiten, 49,80 DM
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