: Die Freunde von Maria Tatame
Die Kampfsportschulen in Brasilien geraten zunehmend außer Kontrolle, sogar viele Jiu-Jitsu-Lehrer sind an wüsten Prügeleien zwischen rivalisierenden Gruppen beteiligt ■ Von Patricia Sholl
Rio de Janeiro (taz) – Karate, Jiu-Jitsu oder Judo sind im Macholand Brasilien derzeit in wie nie zuvor. Nur: Ob Rio de Janeiro, São Paulo oder selbst Brasilia – überall ist die Kampfsportszene inzwischen derart pervertiert, daß selbst weltbekannte renommierte Jiu-Jitsu-Meister und Akademiegründer wie der heute 84jährige Helio Gracie energische Gegenmaßnahmen von Polizei und Gesetzgeber fordern. Laut Gracie und anderen Experten wird die Philosophie des Jiu-Jitsu mißachtet, kaum noch gelehrt. Immer mehr Trainer fördern dafür die Rivalitäten zwischen den zahllosen Kampfsportakademien.
Brutale Auseinandersetzungen, bei denen es sogar Verletzte und Tote gibt, prägen inzwischen oft Treffen der Mittel- und Oberschichtsjugend in den besseren Wohnvierteln, aber auch die Kampfsportwettkämpfe selbst. Allein in der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro mußten in den letzten Wochen zwei solcher Campeonatos abgebrochen werden, weil Hunderte von verfeindeten Fans, darunter zahlreiche Trainer, die Hallen in Schlachtfelder verwandelten. Beim Aufeinandertreffen von Jiu-Jitsu-Kämpfern während eines Gymnasiumsfestes wurde ein Flügel des Museums für Moderne Kunst fast komplett zerstört.
Gemäß einer jetzt veröffentlichten Unesco-Studie trainieren über die Hälfte der Kampfsportanhänger Brasilias ausschließlich, um sich im Alltagsleben Respekt und Autorität zu verschaffen. Sehr bedenklich, meinen die Soziologen, da zum Karateakademie-Kundenkreis der auf dem Reißbrett entstandenen Retortenhauptstadt vorwiegend hochgebildete Söhne sehr gut betuchter Politiker und Regierungsfunktionäre zählen. Die Unesco-Untersuchung war gestartet worden, nachdem im April letzten Jahres fünf junge Männer aus bester Familie einen Indianerhäuptling lebendig verbrannt und dies vor der Polizei als „leider danebengegangenen Scherz“ hingestellt hatten.
Wie Fachleute betonen, steht die von unverantwortlichen Kampfsportlehrern – selbst solchen aus Akademien der Söhne Helio Gracies – geschürte Cultura da Violencia im Kontext von Machismus und Sexismus; moderates Verhalten wird als Schwäche denunziert.
Enttäuschte frühere Kampfsportanhänger sagen, daß Karate- und Jiu-Jitsu-Gruppen heute gezielt auf Feste, in Nachtclubs und Showpaläste gehen, um Randale und Massenschlägereien zu provozieren. Regelmäßig betroffen ist davon sogar Rios exklusiver Musiktempel Metropolitan im noblen Strandviertel Barra da Tijuca: Um bei Rock- und Popkonzerten die Prügeleien besser kontrollieren zu können, werden inzwischen über einhundert Sicherheitskräfte aufgeboten; ein Großteil wacht, im Publikum verteilt, über die rivalisierenden Gangs. Mittlerweile wird selbst von Sportlern gefordert, sämtliche Jiu-Jitsu- oder Karatekämpfer zu registrieren, um nach blutigen Zusammenstößen die Schuldigen leichter identifizieren zu können.
Schwer zu übersehen ist, daß Konfrontationen provoziert werden, um Mädchen und Frauen zu beeindrucken und leichter „erobern“ zu können. Die „Sieger“ werden von Interessentinnen regelrecht umschwärmt. „Maria Tatame“ (Tatame = Kampfmatte) ist in Brasilien heute ein fester Begriff für Frauen, die Kampfsportschläger mögen, sich um diese reißen und auch bestimmte Funktionen übernehmen: Auf Massendiscos oder Konzerten muß die jeweilige Maria Tatame mehrere Meter in der Menge vorangehen – wer sie anschaut oder gar anflirtet, ist sofort Ziel einer Attacke, die gewöhnlich Tumulte auslöst.
Vinny, 30, praktizierte selber lange Zeit Jiu-Jitsu, stieg aus und widmete den Maria Tatames einen Gangsta-Rap-ähnlichen Song, der ein Riesenerfolg in Brasiliens Radios wurde. Starker Tobak im Text: „Ihr Hund ist ein Pitbull / ihr Haus in der Südzone [Rios bessere Viertel, d. Autorin], der Freund Jiu-Jitsu-Kämpfer / Ihr Körper eine Skulptur / Ihr Grips eine einzige Peinlichkeit / ... Ihr Freund ist durchweg in Hochspannung / Denn sie organisiert immer eine Schlägerei / Maria organisiert nur Scheiße / Da gibt's nur einen Weg, ihren Typen zu stoppen / Die Knarre ziehen und einen Haufen Kugeln absondern / Maria Tatame will Kloppereien, das ist es / Also hau ihr in die Fresse, daß sie schreit / Diese Frau gibt nicht eine Minute Ruhe / Er – angeschwollene Ohren, Glatze geschoren.“
Es stimmt, die Jiu-Jitsu-Gangs erkennt man von weitem. Narben an der Nase, T-Shirts mit dem Akademienamen, Glatzen wie die Skins; vom vielen Malträtieren auf den Tatames sehen die Ohren aus wie kleine Kohlköpfe. Eine Zona- Sul-Studentin Rios beklagt: „Das Schlimme ist, daß die Zahl von jungen Männern dieser Mentalität stetig zunimmt – in meinem Hörsaal sitzen allein zehn Stück davon! Leben heißt für die, auf andere loszuhauen.“ Manchmal trifft es sogar alte Leute.
Mit dem alten Gracie verhält es sich wie mit dem Zauberlehrling und den herbeigerufenen, doch nicht wieder verschwindenden Geistern: In Rio weiß jeder, daß die böseste Rivalität ausgerechnet zwischen Akademien zweier seiner Söhne besteht. Treffen die von Gracie Barra da Tijuca, Brasiliens Miami-Abklatsch, auf Kämpfer von Gracie Humaita unter Rios famoser Christusstatue, sind wilde Prügeleien sicher. In vielen Akademien werden die Schüler animiert, nicht sportlich zu kämpfen, sondern mit allen Mitteln – wie in einer realen Verteidigungssituation, gegen einen Straßenräuber beispielsweise.
Das Problem bewegt sich in einem verhängnisvollen Kreislauf: Jugendliche trainieren Kampfsportarten nur, um Jiu-Jitsu-Angreifer abwehren beziehungsweise abschrecken zu können. Homosexuelle, in Rio oder São Paulo weitaus zahlreicher anzutreffen als in den meisten europäischen Städten, werden an ihren Treffpunkten bevorzugt geschlagen und eingeschüchtert. Die Schwulenbewegung Atoba hat deshalb jetzt zwecks Formierung einer sogenannten Gay-Schwadron (Esquadrão Gay) rund 3.500 Mitglieder für Jiu-Jitsu-Kurse ausgewählt.
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