Wirtschaftsflüchtlinge lockt Ferne

Ob mit „Green Card“ in die USA oder für den Job nach Norwegen: Immer mehr Berliner wandern aus, oft aus wirtschaftlichen Gründen. Ein Abschied für das ganze Leben ist selten  ■ Von Kirsten Niemann

Der Norwegisch-Sprachkurs für die Ärzte ist alles andere als ein Picknick. Sechs Stunden wird täglich allein im Unterricht gebüffelt. Dazu kommen vier bis fünf Stunden Hausaufgaben; die müssen einfach sein, wenn die 20 Berliner Mediziner in drei Monaten ihre Abschlußprüfung packen wollen, die die Voraussetzung für den Jobantritt in Norwegen ist. „Dabei hätte ich vor einem Jahr nie gedacht, daß ich da mal mal arbeiten würde“, meint der Anästhesist Dr. Peter Sander.

Sander ist kein Abenteurer oder Globetrotter, sondern einer jener neuen „Wirtschaftsflüchtlinge“, die allein deshalb Deutschland verlassen, weil sie sich nicht mit einer Arbeitslosigkeit auf Dauer abfinden wollen. Eine besondere Beziehung zu dem nordischen Land hat eigentlich kein Teilnehmer aus seiner Gruppe: Die wenigsten von ihnen sind überhaupt jemals dort gewesen.

Rund 11.000 Ärzte ohne feste Beschäftigung werden derzeit in Deutschland gezählt, 1.300 davon allein in Berlin. Eine Situation, die vor zehn Jahren hierzulande noch undenkbar war. „Überall werden jetzt Gelder und Betten gestrichen“, erklärt der Anästhesist, „und daß ich über fünfzig bin, macht die Jobsuche auch nicht gerade leichter.“

Seit über vier Monaten sucht er nun schon nach einer Stelle. Vergeblich. Eine Anzeige in der Fachpresse erlaubte neue Hoffnung: Norwegen sucht 700 bis 800 Ärzte aus dem europäischen Wirtschaftsraum für die dünnbesiedelten Nordregionen des Landes. Eine Anzeige, die auch die junge Allgemeinmedizinerin Dr. Karin Weidele aus der Frustration holte: 500 Bewerbungen hat sie geschrieben, dennoch ist sie seit sechs Monaten ohne Arbeit.

„Freiwillig gehe ich bestimmt nicht nach Norwegen“, gesteht die Ärztin, „aber hier sehe ich einfach keine Chance. Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber irgendwo arbeiten, wo es warm ist.“

„Zu diesen 4,8 Millionen deutschen Arbeitslosen gehören wir jetzt jedenfalls nicht mehr“, freut sich Peter Sander. Denn beim Arbeitsamt sind sie abgemeldet. Bis der Arzt und seine Kollegen die Jobs in Norwegen antreten, werden sie mit rund 1.900 Mark Unterhalt monatlich von ihrer künftigen Heimat unterstützt; selbst den dreimonatigen Intensivsprachkurs bei der Berlitz-Schule zahlt das Gastland.

Während sich in Deutschland kaum noch Perspektiven für Ärzte bieten, hat das Land der Fjorde einen chronischen Ärztemangel zu beklagen. „Norwegen boomt, aber in den letzten Jahren hat man gespart und versäumt, Akademiker auszubilden“, meint Hans Groffebert von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt am Main (ZAV), die das Projekt von deutscher Seite leitet. „Sicherlich werden wir am Ende irgendwohin geschickt, wo wir gar nicht hinwollen“, unkt ein angehender Kinderarzt.

Im Jahr 1996 wurden vom Statistischen Bundesamt 41.000 deutsche Auswanderer nach Übersee registriert, das sind fast doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Tendenz steigt. Auch innerhalb der EU, über deren Fluktuation keine Zahlen vorliegen, steigt die Zahl der Auswanderer. Doch nicht nur die Angst vor Arbeitslosigkeit und der wachsenden Rezession treibt die Deutschen in die Ferne. Georg Mehnert von der Katholischen Auswanderungsberatungsstelle „Raphaelswerk“ gebraucht den Begriff „Auswanderer“ für die Deutschlandflüchtlinge nur noch ungern.

„Viel besser finde ich es, heute von einer internationalen Mobilität zu sprechen.“ Die Motive für eine Abwanderung lägen heutzutage schließlich völlig anders als noch vor fünfzig Jahren. Etwa 25 Prozent wollen weg, weil sie einfach die Schnauze voll haben!“ Ein Großteil der Auswanderer bleibe ohnehin nicht auf Dauer fort. „Nach ein paar Jahren sind viele wieder da.“

Nicht nur Arbeitslose, sondern auch Leute, die in einem guten Job stehen, entscheiden sich heute immer öfter für einen mehrjährigen Auslandsaufenthalt. Fernreisen im Urlaub schaffen ein offeneres Verhältnis gegenüber neuen Ländern. „Die Leute, die wegwollen, werden immer jünger“, meint Mehnert und berichtet mit einigem Amüsement von der Anfrage eines Neuntkläßlers, der nach dem Abi unbedingt nach Grönland abwandern möchte.

Doch egal ob Hilfsarbeiter oder Topmanager – Raphaelswerk- Mitarbeiter Mehnert berät sie alle. Er verrät ihnen, wie sie im Ausland an einem Job kommen: „In England oder Amerika geht kein Mensch zum Arbeitsamt, wenn er einen Job braucht.“ Arbeitsvermittlungen laufen da über Service- Agenturen und Job-hunter. Außerdem klärt er seine Klienten über die verschiedenen Sozialversicherungssysteme auf, die es in anderen Ländern gibt. Die Beratungen der ZAV in Frankfurt hält er hingegen für „einen schlechten Witz“. „Abgesehen von dem Sprachkurs wird denen doch nichts geboten!“

Viele Abwanderungswillige erwarten von ihm ein „geschnürtes Gesamtpaket“, das ihnen im Ausland das Gefühl von Sicherheit bieten soll. „Typisch deutsch“, urteilt der Berater. „Man kann den Leuten nur schwer begreiflich machen, daß in England, Kanada oder den Vereinigten Staaten der Sicherheitsgedanke etwas vollkommen Fremdes ist.“ Und die Tatsache, daß Lebensstandard und soziale Leistungen im Ausland oft geringer sind als bei uns, sei den Abwanderungswilligen oft schwer zu vermitteln.

Auch der Promotionsstudent Paul Michaelis kann sich von dem Sicherheitsgedanken nicht vollständig lösen. Vor über fünf Jahren hat er gleich im ersten Anlauf die begehrte Green Card für die USA gewonnen und lebt seitdem in New York. Dort genießt er nun den selben Lebensstandard wie die Mehrzahl der 15 Millionen New Yorker auch: Drei Jobs laufen gleichzeitig und nebenbei die Promotion. Das schlaucht. An eine Einbürgerung, die in den USA nach fünf Jahren Aufenthalt möglich wäre, denkt er nicht im Traum. Statt dessen fliegt er zweimal im Jahr nach Hause, wo immer noch seine AOK-Krankenversicherung läuft. „Für immer auswandern? Das mache ich vielleicht später, wenn ich mal einen wirklich guten Job habe!“