Die Wetterlüge

Ein Komplott drängt die gefühlte Temperatur ins Abseits. Folge: Erkältung, Grippe, Lungenentzündung. Stecken die Ärzte dahinter?  ■ Von Silke Mertins

„Mild“würde es, sagte der staatlich geprüfte Mann vom Wetteramt im Live-Interview auf der NDR-Hamburgwelle gestern morgen. Mild? Also gut, Strumpfhose aus, Fellstiefel in den Schrank. Fast ist man versucht, die Mütze zuhause zu lassen. Der Schock folgt der Wetterlüge auf dem Fuße. Ein eisiger Wind läßt das Blut gefrieren, treibt Tränen in die Augen, läßt die Nase laufen. Zum Umkehren ist es längst zu spät. Der auf die Wettervorhersage vertrauende Mensch ist den Naturgewalten ausgeliefert.

Hamburgs Bürgerinnen und Bürger sind empört. Fahrradfahrerin Susanne W. (32): „Ich habe dem Wetterbericht vertraut. Jetzt liege ich mit Erkältung im Bett.“Hundebesitzer Axel B. (26) klagt an: „Noch nie war meine Nase so rot wie heute.“Auch Autofahrer Heinz-Günther H. (42) ist unleidlich: „Auf dem Weg zu meinem Wagen habe ich ganz schön gefroren. Außerdem hatte ich keine Handschuhe dabei.“Nur der Hausarzt Werner P. ist zufrieden: „Meine Praxis ist voll.“Aha! Soso!

Wer oder was also steckt hinter dieser fahrlässigen Irreführung der Öffentlichkeit? Oder anders gefragt: Warum wurde die „gefühlte Temperatur“, die uns im vergangenen Winter noch so unschätzbare Dienste leistete, aus den Radioprogrammen geworfen? „Bei uns findet das nicht mehr statt“, bekennt Norman Hild von der NDR-Hamburgwelle. Der Programmchef Rüdiger Knott habe das so verfügt.

Selbst bei Radio Hamburg will man von der gefühlten Temperatur nichts mehr wissen. „Nur noch sporadisch“würde die vermeldet, weiß Mitarbeiterin Ragna Friehold. Und zwar dann, wenn die Differenz zwischen der angeblich wahren und der gefühlten mindestens vier Grad beträgt. Komischerweise scheint das kaum noch vorzukommen.

Empirisch ist zweifelsfrei belegbar, wie schlimm die Auswirkungen der unterlassenen Hilfeleistung in der Kleidungsfrage bereits sind: Eine grippale Epidemie läßt die Büros und Produktionsstätten dieser Stadt ausbluten. Der Standort Hamburg ist in Gefahr. Heute wird das Thema „bürgernahe Wetterberatung“auf der Tagesordnung des Senats stehen, berichten Insider.

Die Frage, welche Verbindungen zwischen Grippe und Lungenentzündung einerseits, überfüllten Wartezimmern und dem plötzlichen Boykott der gefühlten Temperatur andererseits besteht, beschäftigt derzeitig auch eine Sonderermittlungsgruppe. Ungeachtet des Aufklärungsbedarfs setzt sich die Bürgerinitiative „Nie mehr frieren“nun mit Nachdruck für die gefühlte Temperatur ein. Spenden für diverse Aktionen werden gerne über die taz weitergeleitet.