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Ein Abstecher im Raumschiff Bonn

Jährlich werden 270.000 Menschen durch den Bundestag geschleust. Die Zeit ist knapp bemessen, auch für die Abgeordneten  ■ Von Ariel Hauptmeier

Ich begrüße Sie vielmals im Innenministerium“, sagt Helmut Kühne, als sich alle gesetzt haben. „Möchte noch jemand eine Cola?“ Nein, niemand mehr. „Ich möchte gern eine Wanze sehen“, sagt eine junge Frau, „ich denke mir, sie haben hier bestimmt eine.“ Die 50 Besucher, eingeladen vom bündnisgrünen Abgeordneten Gerald Häfner, gucken gespannt nach vorn. Helmut Kühne stutzt. Dann knipst der Öffentlichkeitsarbeiter sein Lächeln wieder an. „Schauen Sie ruhig unter den Tischen nach.“

Hinten im Raum fängt leise ein Baby an zu weinen. Helmut Kühne, scharf gescheitelt und im perfekt sitzenden Anzug, projiziert die Organisationsstruktur des Innenministeriums an die Wand. „Der derzeitige Personalstand beträgt 1.834 Mitarbeiter“, beginnt er, wird aber schon bald unterbrochen. Ob man nicht über das Thema doppelte Staatsbürgerschaft reden könne? Aber natürlich.

„Deutschland ist das Land, das Ausländer zu Ausländern macht“, kritisiert einer. Eine junge Frau erzählt, daß ihre Einbürgerung sieben Jahre lang gedauert habe; ein unendlicher Papierkrieg. Überhaupt: Kanthers Innenpolitik verhindere die Integration von Einwanderern und zerstöre den sozialen Frieden. Und der Verfassungsschutz sei auf dem rechten Auge blind. Kühne lächelt. „Sagen Sie ruhig Ihre Meinung. Nur zwei Prozent der Deutschen engagieren sich politisch. Das ist viel zuwenig.“

Kühne ist Beamter. Für die Linie seines Hauses trägt er keine politische Verantwortung, seine eigene Meinung spielt keine Rolle, und der Minister verwirklicht seine Vorstellungen auf dem Boden des Grundgesetzes. „Vielleicht erfüllen sich Ihre Wünsche ja im September unter einem grünen Innenminister“, sagt Kühne. Und lächelt.

Die Besucher sind am Vortag aus München angereist, um an einer dreitägigen „Informationsreise für politisch Interessierte“ teilzunehmen. Jeder Parlamentarier kann zwei Gruppen pro Jahr empfangen, eine in Bonn, die andere in Berlin. Organisiert und bezahlt wird die parlamentarische Selbstdarstellung vom Bundespresseamt. 32 Millionen Mark stehen pro Jahr dafür zur Verfügung.

Die Abgeordneten laden Kegelvereine ein (die gelten als pflegeleichte Besucher) oder eine Berufsgruppe, zum Beispiel Sozialarbeiter (die dann ihren Frust im Gesundheitsministerium abladen können). Oder sie belohnen verdiente Parteisoldaten mit einer Gratisreise in die Hauptstadt. So in diesem Fall: Die meisten von Gerald Häfners Gästen sind seit Jahren als grüne Kommunalpolitiker aktiv. Sie kennen sich bestens aus in der Tagespolitik, und viele sind mit großen Erwartungen angereist. Sie wollen Politiker treffen, deren Entscheidungen das Land mitbestimmen. Einmal direkt bis „ganz nach oben“ vordringen. Und einmal nicht auf die Zerrbilder der Medien angewiesen sein. Der Besuch beginnt im Kanzleramt. Auf dem Weg dahin kommen die Münchner am Bundestag vorbei. Weil Sitzungswoche ist, herrscht Hochbetrieb vor dem Parlament. Einige bekannte Gesichter sind zu sehen: Da der Riesenhuber. Und da ist Ludger Volmer.

Der ehemalige Parteisprecher der Grünen schaut kurz auf, als er an der Gruppe vorübergeht. Vielleicht will er gucken, ob ihn jemand erkennt. Oder er war mit den Gedanken ganz woanders und hat auf gar nichts geachtet. Wie auch immer, in zehn Sekunden wird er die Gruppe vergessen haben. Für ihn gehören die Polittouristen zur alltäglichen Kulisse seiner Fußwege im Regierungsviertel.

Die Gäste aus München hingegen kennen das, was sie hier sehen, nur aus dem Fernsehen. Jetzt versuchen sie die Bilder in ihren Köpfen mit der Realität zu vereinbaren; dabei entsteht der Eindruck von Normalität. „Alles sehr bodenständig“, findet der 23jährige Julian Metzner.

Es beginnt zu regnen. An einem Seiteneingang des Kanzleramtes steht eine junge Polizistin und ruft Namen von einer Liste auf. Jeder muß seinen Ausweis zeigen und dann durch einen grünen Container mit einem Metalldetektor gehen. Ein Polizist durchsucht die Rucksäcke. Eine ältere Dame, Angestellte des Besucherdienstes, schaut immer ungeduldiger auf die Uhr. „Geht das nicht schneller? In 40 Minuten habe ich die nächste Gruppe.“ Die Beamten lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Einer der Besucher sagt: „Ist ja wie in dem RAF-Film hier.“

Im Kanzleramt schlucken dicke Teppiche den Schall. Die Dame, Angestellte des Besucherdienstes, geht in den ersten Stock voraus, öffnet eine vertäfelte Tür, und plötzlich stehen alle im Kabinett, dort, wo jeden Mittwoch um 9.30 Uhr die Minister ihre Akten auspacken und in die Kameras lächeln. Der lange Tisch ist mit einer Kordel abgesperrt und glänzt vor Möbelpolitur.

„Ein Stockwerk über Ihnen sitzt jetzt vielleicht der Herr Bundeskanzler und arbeitet“, erzählt die Dame. Die Münchner reagieren nicht. Wo soll der Kanzler denn auch sonst arbeiten? Das Fluidum der Macht fließt nur spärlich. „Was sollte das denn?“ wundert sich die 60jährige Ahuva Sommerfeld auf dem Weg nach draußen. „Ich bin doch nicht nach Bonn gekommen, um die Möbel im Kanzleramt zu besichtigen!“

Wichtiger ist ihr die nächste Begegnung. Der Gastgeber empfängt die Gruppe im Besucherzentrum des Bundestages. „Hallo, ich bin der Gerald“, sagt Häfner und grüßt per Handschlag. Der 41jährige ist Waldorflehrer, bei der Fraktion für Rechtsfragen zuständig und sieht ein wenig aus wie Reinhard Mey. Er ist einer dieser Politiker, die enorm fleißig und in Bonn hochgeschätzt, einer größeren Öffentlichkeit aber kaum bekannt sind.

„Wenn man mit Idealismus hier hineingeht, muß man wahnwitzig viel arbeiten“, erzählt Häfner von sich. Und plaudert aus dem Bonner Nähkästchen: „Ich sag' mal was Ketzerisches: Koalitionen mit Schwarzen sind oft leichter als mit Roten. Bei den Konservativen weiß man wenigstens, woran man ist.“ Am Ende des einstündigen Vortrags senkt er beschwörend die Stimme. „Für mich steht bei der Bundestagswahl mehr auf dem Spiel als ein Machtwechsel. Für mich steht auf dem Spiel, ob es uns gelingt, den weltweiten Durchmarsch eines völlig rücksichtslosen Kapitalismus zu stoppen. Ob wir ein Gegenmodell finden, das für die ganze Welt wichtig ist.“

Die Sätze machen Eindruck. Weltweit hat sich der rücksichtslose Kapitalismus ausgebreitet, hat Häfner gesagt, und die Grünen sind berufen, dem entgegenzutreten. Ergriffene Stille senkt sich über die Zuhörer. Auf dem Weg hinunter zum Rhein, wo ein Ausflugsdampfer wartet, unterhalten sie sich mit gedämpfter Stimme. „Ein begnadeter Redner“, murmelt der Rentner Helmut Piening. „Man merkt, daß er mit der Seele dabei ist.“

Am nächsten Morgen, kurz nach zehn sitzt Helmut Piening auf der Besuchertribüne des Bundestages. Er hat ein gutes Gefühl, wenn er die Abgeordneten dort unten sieht. „Es sind keine wirklichen Gangster dabei.“ Gegen die Privilegien der Parlamentarier habe er nichts, und einige Abgeordnete würde er gern einmal kennenlernen. „Das wäre sicher ein Gewinn. Auch wenn ich befangen wäre und nicht wüßte, über was ich mit ihnen reden soll.“

Um halb elf ertönt ein Gong, alle erheben sich von den Plätzen, und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth geht zu ihrem Pult. Sie erteilt dem Außenminister das Wort. Gerade hat sich Klaus Kinkel warm geredet, als ein befrackter Saaldiener vor die Münchner tritt. „Ihre Besuchszeit ist abgelaufen“, flüstert er. Widerwillig verlassen sie die Tribüne. Im Foyer machen sie ihrem Ärger Luft. „Da reist man von so weit an, und dann muß man gerade dann gehen, wenn es spannend wird“, ärgert sich eine Frau. Eine andere sagt: „Dieser Affenzirkus ist doch symptomatisch. Dieses System ist überhaupt nicht basisorientiert.“

Hans-Dieter Witte, Leiter des Besucherdienstes, bedauert, daß jeder Besucher nur eine knappe Stunde auf der Tribüne bleiben darf. Aber um jährlich 270.000 Menschen durch das Parlament zu schleusen, müsse man die Besuchszeiten begrenzen. „Es ist natürlich Pech, wenn man bei einem prominenten Redner von der Tribüne geschickt wird.“

Letzter Tag. „Und, wie ist es gelaufen?“ fragt Häfner, als er beim Mittagessen in der bayrischen Landesvertretung auftaucht, um sich zu verabschieden. Die Fahrt auf dem Rhein – überflüssig. Und zuviel Information und zuwenig politische Diskussion, lautet der Tenor. Häfner sieht das ähnlich. „Wir Grünen kämpfen für mehr Gesprächstermine mit Abgeordneten.“ Aber das Bundespresseamt organisiere das Programm, und außerdem gebe es da ein Zeitproblem. Er selbst muß leider auch sofort zu einer Sitzung nach Bayern.

Seine Gäste nehmen ihm das nicht übel. Julian Metzner, Kaufmann, lobt Häfners „klare Denkstrukturen“ und ansteckenden Idealismus. Er ist so begeistert, daß er demnächst mal bei einem Ortsverein vorbeischauen will – allerdings bei der SPD. „Bei mir hat sich ganz leicht die Überlegung ergeben, ob die Politik für mich eine spätere Berufsmöglichkeit wäre.“ Ahuva Sommerfeld ist anderer Meinung. „Die Reise war nicht mehr als eine gehobene Kaffeefahrt. Ich bin ein politischer Mensch und wurde behandelt wie ein Tourist. Und um zu wissen, wie das Wirtschaftsministerium funktioniert, muß ich nicht nach Bonn kommen.“ Auch Pavlos Delkos ist enttäuscht. „Meine Erwartung, daß ich Politik live erlebe, hat sich nicht erfüllt“, sagt der gebürtige Grieche. Und regt sich noch einmal über das Gespräch im Innenministerium auf: „Kühne hat unsere Kritik nicht ernst genommen.“ Sozialpädagoge Rudi Heimler hingegen fühlt sich schon fast zu ernst genommen. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich bedenke, wieviel Geld der Staat für uns ausgegeben hat.“ Allein das Hotelzimmer kostet 350 Mark pro Nacht. „Ja, so sind sie, die Grünen“, murmelt seine Nachbarin.

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