: Die Tigerin wird wütend
Sowohl die Überraschungs-Super-G-Siegerin Picabo Street als auch die gescheiterte Favoritin Katja Seizinger behaupten, sie hätten alles schon vorher gewußt ■ Aus Hakuba Matti Lieske
Wer in einem Städtchen namens Triumph geboren wurde, hat eine gewisse Verpflichtung. Zwar wohnt Picabo Street, die gestern den olympischen Super-G gewann, längst nicht mehr in ihrer Heimat Idaho, aber das Streben nach höheren Weihen hat sie mit hinaus in die Welt genommen. Ebenso eine positive Grundeinstellung. Während Katja Seizinger das Schlimmste erwartet und, wenn es dann eingetreten ist, mit den Schultern zuckt und sagt: „Wir haben es ja vorher gewußt“, rechnet Street nur mit guten Dingen. So erklärte sie vor Olympia frohgemut, zweimal Gold gewinnen zu wollen.
Eine Aussage, die auf einiges Erstaunen stieß, denn nach vierzehnmonatiger Pause wegen einer schweren Knieverletzung hatte die 26jährige in dieser Saison relativ wenige Rennen mit eher mäßigem Erfolg bestritten. Hinzu kam ein schwerer Sturz am 31. Januar beim Abfahrtslauf im schwedischen Are, den viele für das Ende ihrer olympischen Ambitionen hielten. Doch genau jener Sturz, erzählt Street, habe ihr ungeheuren Auftrieb gegeben, obwohl sie immer noch Kopfschmerzen und einen verspannten Halsmuskel davon habe. „Das Entscheidende nach einer schweren Verletzung ist, wie man über den nächsten Crash kommt“, erläutert sie, „und als ich gemerkt habe, daß ich einfach weggehen kann und mein Knie vollkommen in Ordnung ist, war das wie eine Befreiung.“
Wirklich ernsthaft habe sie nicht geglaubt, siegen zu können, relativiert die Abfahrtsspezialistin ihre Olympiaprognose, aber ganz ins Blaue war diese trotzdem nicht gesprochen. Die Strecke in Nagano, relativ flach, mit wenigen Kurven, war maßgeschneidert für die robuste Street, die hervorragend gleiten kann, Gift hingegen für die deutschen Läuferinnen, die fünf der sechs Super-G im Weltcup gewonnen haben und es eher steil lieben. „Auf dieser Strecke war sie für mich eine Mitfavoritin“, sagt Seizinger, und Street selbst gibt zu: „Der Kurs hat mich sehr begünstigt.“ Allerdings hat sie auch einiges getan für diesen Olympiasieg. Der entscheidende Durchbruch in ihrer Karriere sei die Abfahrt-Silbermedaille von Lillehammer gewesen. „Ich war vorher noch nie bei Olympia und ging als Favoritin ins Rennen“, erinnert sie sich, „und als ich Silber hatte, wußte ich, daß ich die Gabe besitze, mich unter extremsten Bedingungen auf ein Ziel zu konzentrieren. Das gab mir immenses Selbstvertrauen.“
Die Zeit ihrer Verletzung ließ sie nicht ungenutzt verstreichen. Im vergangenen März war sie in Hakuba und besichtigte die Piste — huckepack auf dem Rücken ihres Trainers. „Visualisierung ist sehr wichtig. Sich die Häuser, die Bäume, den Berg vorstellen zu können, hilft bei der Vorbereitung.“ Solchermaßen präpariert, setzte sie sich gestern einen Tigerhelm auf und weiß gleich mehrere Gründe für diese Wahl anzuführen. Es sei das Jahr des Tigers, der bengalische Tiger ein bedrohte Tierart, ihr selbst hätten die Japaner 1993 in Morioka den Beinamen Tigerin verliehen, und außerdem wolle sie sich damit zu „Intensität und Aggressivität“ mahnen.
Die Selbstmotivation gelang bestens. Als sie im Mittelteil einen krassen Fehler machte, fuhr sie das letzte Stück, „weil ich wütend über mich war“, so fulminant, daß keine der Rivalinnen einen Profit aus dem Patzer schlagen konnte. Außer, fast, Michaela Dorfmeister, die am Ende nur eine Hundertstelsekunde hinter Street landete. Die Österreicherin hatte angesichts der abfahrtsähnlichen Strecke – ebenso wie die Siegerin, die Drittplazierte Alexandra Meißnitzer, und die Fünfte, Renate Götschl – längere Abfahrtsski statt der Super-G-Ski benutzt. „Wir haben lange gewartet“, erläutert die Silbermedaillengewinnerin. Als dann die Abfahrtsskiträgerinnen Street, Meißnitzer, Götschl alle vorn gelandet waren, schnallte Dorfmeister, die mit Startnummer 18 ins Rennen ging, „fünf Minuten vor dem Start“ ebenfalls die langen Bretter an.
Eine Flexibilität, die das deutsche Team nicht besaß. Die Variante mit den Abfahrtsski hatte man gar nicht mitbekommen und nie in Erwägung gezogen. Katja Seizinger bezweifelte noch lange nach Schluß des Rennens, daß die ersten drei überhaupt lange Ski anhatten. Sie führte das mit den Plätzen vier (Häusl), sechs (Seizinger), sieben (Ertl) und zehn (Gerg) nicht schlechte, aber doch unbefriedigende Abschneiden eher auf die Startnummern zurück. Weil die Piste in der Sonne weich geworden sei, wären die ersten Starterinnen im Vorteil gewesen. Eine Theorie, der die rasende Fahrt von Dorfmeister widerspricht. Aber die habe wohl, so Seizinger, „ein unheimliches Gerät am Fuß gehabt“. Abfahrtski halt.
Allzugroß sind die Hoffnungen von Seizinger und Ertl auch für den Samstag nicht, wenn laut Plan der Abfahrtslauf entschieden wird. Zwar werden dann auch die deutschen Läuferinnen längere Ski tragen, aber Picabo Street, „die natürliche Favoritin“ (Meißnitzer), am Sieg zu hindern, dürfte schwer werden. Zumal der große Druck von den Schultern der US-Amerikanerin genommen worden ist. „Seit ich zehn bin, habe ich von einer Goldmedaille geträumt“, strahlte sie in Hakuba, „seit heute habe ich sie.“ Wenn noch eine dazukommt, könnte es gut sein, daß Triumph, Idaho, bald in Picabo umbenannt wird. Oder wenigstens eine Straße.
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