Der alte Mann – und was mehr?

■ Sommertheater: Wim Vandekeybus' Hommage an Carlo Verano „Alle Größen decken sich zu“

Eine schöne Geschichte. Wo immer das Stück Alle Größen decken sich zu auf seiner Tournee durch Österreich und Deutschland gezeigt wird, wird sie nacherzählt. Hier eine Kurzfassung.

Der belgische Choreograph Wim Vandekeybus nahm 1989 mit einer Videokamera den Hamburger Fischmarkt auf, da tänzelt ihm ein skurriler alter Mann ins Bild. Es ist Carlo Wegener, 86 Jahre alt, der in seiner Jugend als Tänzer in Varietés auftrat, ein Schwadroneur und En-tertainer vor dem Herrn, mit, wie Vandekeybus später schreibt, „müdem Körper und galoppierender Seele“. Der alte Tänzer und der junge Tanztheaterregisseur, sie schließen Freundschaft. Später zieht Wegener sogar zu Vandekeybus nach Belgien, wo er 1992, inzwischen 89jährig, stirbt. Schlußwendung: Drei Jahre später verarbeitet der Regisseur die Tonbandmitschnitte, auf denen er den Redeschwall des Freundes aufgenommen hat, zu einem Stück, zu einer Hommage an Carlo Wegener alias Carlo Verano, zu eben der Szenencollage Alle Größen decken sich zu.

Vorgestern und gestern war das Stück beim Internationalen Sommertheater auf Kampnagel zu sehen – und erwies sich, auch wenn es nicht recht zu der anrührenden Geschichte passen will, über weite Strecken als rechte Belanglosigkeit. Den Text hat Vandekeybus aus Wegener/Verano-Originalzitaten zusammengestellt und auf zwei gar nicht alte Schauspieler verteilt. Zuerst sitzt der eine an dem alten Kohlenherd, der links auf der Bühne steht. Er hat ein Plastikimitat von Wegeners/Veranos edler, großer Nase im Gesicht und stellt dessen müden Körper dar: „Ich kann das nicht mehr. Elend, verfluchtes Elend.“

Der zweite Schauspieler, strahlender, straffer, mit dem Imitat von einer Geschwulst am Hals, tendiert dagegen zur galoppierenden Seele. Er befindet sich anfangs rechts auf der Bühne, wo Wegeners/Veranos vollgestopfte Sozialwohnung auf St. Pauli nachgebaut ist. Fünf Monitore zeigen die vor bunten Lichtern glitzernde Elbe bei Nacht. Und die beiden Schauspieler schimpfen und leiden sich durch das gealterte, aber immer noch zähe Künstlerleben.

Wollte man witzeln, ließe sich, Hemingway variierend, fragen: Der alte Mann – und was mehr? Nun, etwas mehr gibt es doch. Einen Tänzer, der als Meerschweinchen über die Bühne tobt und später wunderbarerweise den Staubsauger bedienen kann. Und eine geheimnisvolle Blondine, die noch über der Sozialwohnung lebt – und mehrmals von dem Meerschweinchen vergewaltigt wird (welche Erlebnisse sich hier verarbeitet finden, können wir beim besten Willen nicht erahnen). Das ist recht nett anzusehen und bleibt dennoch fad. Vor allem, weil Wegener/Verano in den Textbrocken nicht faßbar wird. Und die Faszination, die Vandekeybus bei dem wunderlichen Alten verspürt haben mag, wir wollen sie glauben, sehen können wir sie allerdings nicht.

Bis in der letzten halben Stunde das Stück tatsächlich zu galoppieren anfängt. Verano tanzt noch einmal einen letzten Tanz (den Tod aus der Oper Der Tod und das Mädchen). Danach ist die Bühne plötzlich in einen grellen Zirkus, ein schräges Gesichter- und Figurenkabinett verwandelt. Als gäbe das Stück Verano in einem letzten Freundschaftsdienst dessen alte Kraft zurück.

Die allerletzten Momente sind dann ein Vergehen, ein allmähliches Verlöschen, wie eine Kerze verlöscht: So deckt Vandekeybus den ehemaligen Tänzer Carlo Verano schließlich doch noch liebevoll zu. Dirk Knipphals