: Irgendwo da draußen, das ahnt er, steht sie
■ Auf der Trüffelsuche mal wieder fündig geworden: Die Neue Opernbühne Berlin mit zwei Opern des amerikanischen Komponisten Dominick Argento zu Gast im Ballhaus Naunynstraße
Der schäbig gekleidete Dozent erschrickt, als er das Publikum sieht. Er haßt es, Vorträge zu halten. Aber der Diaprojektor läuft. Vogelstimmen zwitschern vom Band. Und irgendwo, das ahnt er, steht sie. Und beobachtet ihn.
„Ladies and gentlemen...“ Zu lieblicher Streicherbegleitung kündigt der Dozent einen Vortrag über Wasservögel an. Obwohl er sich eigentlich lieber mit Skorpionen und Spinnen beschäftigt. Und obendrein wasserscheu ist. „Aber meine Frau bestand darauf.“ Je weiter der Dozent vom vorgeschriebenen zu seinem eigentlichen Thema abschweift, desto mehr Instrumente fallen ein. Seine wachsende Verzweiflung spiegelt die immer schrägere und dynamischere Musik. Das erste Dia bringt eine Atempause, einen Neuanfang mit anmutigen Bläserläufen.
Die Neue Opernbühne Berlin gräbt nach unbekannten Opern wie nach Trüffeln. Jetzt haben die jungen Musiker wieder zwei Kostbarkeiten entdeckt, die in den großen Opernhäusern kaum eine Chance hätten. „A Water Bird Talk“ ist höchstwahrscheinlich die einzige Oper der Weltgeschichte, die sich um einen Diavortrag dreht. Das Werk des amerikanischen Komponisten Dominick Argento, 1977 in Brooklyn uraufgeführt, ist unter der Regie von Alexander Paeffgen zum erstenmal in Deutschland zu sehen (musikalische Leitung: Andreas Schüller). Einer Empfehlung des Komponisten folgend, wird es mit einer anderen Kammeroper von ihm kombiniert: „Miss Havisham's Wedding Night“ von 1981.
In beiden Einaktern steht eine einsame, in ein auswegloses Unglück verrannte Figur im Mittelpunkt. Der Lektor in „A Water Bird Talk“ erzählt wenig über Vögel, aber viel über seine Ehehölle. Wie ein kleiner Junge wird er von seiner Frau ohne Abendessen ins Bett geschickt, wenn er etwas falsch gemacht hat. Jedes Dia führt zu einer neuen Anekdote aus dem traurigen und lächerlichen Leben des Dozenten.
Argentos Libretto basiert auf einem szenischen Monolog von Tschechow, in dem ein starker Raucher auf Geheiß seiner Frau „Über die Schädlichkeit des Tabaks“ referieren muß. Die Musik schmiegt sich der Struktur des Diavortrags perfekt an – in der vielleicht einzig möglichen Form eines Themas mit sechs Variationen. Jedes neue Dia stellt ein anderes Soloinstrument in den Vordergrund. Argento fürchtet sich nicht vor Tonalität und Wohlklang, ab und zu spielt er mit traditionellen Ausdrucksformen. Wenn der Dozent klagt, daß seine unmusikalische Frau nicht einmal in der Kirche singt, erklingt ein Choral. Jörg Gottschlich (Bariton) drückt das lachhafte Leiden des Mannes nicht nur musikalisch perfekt aus. Hektisch flüchtet er vor sich selbst über die Bühne, trampelt wütend auf dem verhaßten Gehrock herum und sackt dann, ein Häufchen Elend, in sich zusammen.
Vom Bühnenpodest führen Stahlseile zur Decke, ein luftiger Käfig für Monomanen. Auch Miss Havisham, eine Figur aus Charles Dickens' symbolischem Spätwerk „Große Erwartungen“ (das jetzt auch verfilmt worden ist), ist eine Gefangene ihrer selbst. Die alte viktorianische Lady hat nie verwunden, daß sie kurz vor der Hochzeit von ihrem Bräutigam verlassen wurde. Von diesem Moment an bleibt die Zeit stehen, das Hochzeitsessen verschimmelt auf dem Tisch, die Betrogene trägt für immer Weiß und spielt zwanghaft die Ereignisse des Abends nach, an dem ihr Leben in Trümmer ging.
„Miss Havisham's Wedding Night“ ist musikalisch dichter und komplexer als „A Water Bird Talk“. Ein selten gehörtes und vielverachtetes Gerät tritt als Soloinstrument hervor: das Harmonium. Der leicht gequetschte Klang unterstreicht die altmodische Enge von Miss Havishams Leben. Die Sopranistin Christine Wolff rauscht im schleppenbewehrten Brautkleid über die Bühne, empfängt imaginäre Besucher wie eine Königin, liest dann den schicksalhaften Abschiedsbrief erneut, krümmt sich vor Schmerz. Am Morgen nach der schrecklichen Hochzeitsnacht serviert ihr die schöne Halbwüchsige Estella den Tee. „Ich werde dir alles erzählen... über Männer“, sagt Miss Havisham, und ganz plötzlich und bescheiden verstummt die Musik... Miriam Hoffmeyer
Heute und 20. bis 22.2., 20 Uhr, Ballhaus Naunynstraße, Naunynstr. 27
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