Leipzig jetzt endlich in Farbe

■ In Andreas Voigts Dokumentarfilm „Große weite Welt“ sind die Rechts- und Linksradikalen von einst endlich da angekommen, wo sie immer hinwollten: im Spießertum

Einige Dokumentarfilmer sind bekannt für ihre Vorliebe für Langzeitbeobachtungen. Gern kehren sie zurück zu den Protagonisten vergangener Filme und schauen, was aus ihnen geworden ist. So stellt sich ein seltsames Familiengefühl ein.

Leipzig ist eine prima Stadt, und „Große Weite Welt“ ist der fünfte Leipzig-Film des ehemaligen DEFA-Regisseurs Andreas Voigt. Den ersten – „Alfred“ – drehte er 1986. Früher war Leipzig recht düster, versmogt, verfallen. Außerdem konnte man dort kein Westfernsehen empfangen. Zyniker stellen dann gerne eine Beziehung her zu den Montagsdemonstrationen, mit dem schönen Schlachtruf „Wir sind ein Volk“. Früher, in Voigts Dokumentarfilm „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (1994), kam Leipzig in einem melancholietrunkenen, schönen Schwarzweiß daher. Trostlose Stadtlandschaften, in denen nie die Sonne scheint, Arbeiter, die nichts mehr zu tun haben, gruftige Hausbesetzerpunks, die auf den Staat schimpfen, rechtsradikale Loser-Jugendliche, die vereinsamt mit ihren Kanarienvögeln zu reden pflegen, an Wochenenden Schwule klatschen gehen und auch ansonsten auf „Fun“ stehen. „Glaube, Liebe, Hoffnung“ entwarf ein teilweise recht einfühlsames Bild seiner jugendlichen Helden. Sie pendeln, wie „Papa“, eher aus Perspektivlosigkeit zwischen links und rechts und sagen über ihre Eltern: „Wenn es ein Gesetz gäbe, daß man um neun Uhr ins Bett gehen müßte, würden meine Eltern um halb acht ins Bett gehen.“

In seinem neuen Film „Grosse weite Welt“ ist Leipzig nicht mehr schwarzweiß, sondern farbig, und alle sind angekommen in der neuen Gesellschaft. Für die, die den Anschluß verpaßt haben, hat sich Voigt nicht mehr interessiert. Im Rückblick erscheinen ihre rechts- oder linksradikalen Ansichten als umschwungsverschuldete Jugendsünden. Was nicht unbedingt Voigt anzulasten ist, aber man denkt das halt, wenn man hört, daß der neue Leipzig-Film eines anderen Dokumentaristen – Gerd Kroske –, in dem es um „Loser“ geht, vom letzten Leipziger Dokfilmfestival mit der Begründung abgelehnt worden war, daß er nicht die Leipziger Wirklichkeit zeige. Während Voigts Film in Leipzig gezeigt wurde. In seinem neuen Film, der größtenteils nicht in Leipzig spielt, sind seine früheren Helden also angekommen, die Wendeverwirrungen sind vergangen, alle sind klüger. Reden manchmal – wie eine ehemalige Punkfrau, die nun in Stuttgart mit einem irgendwie deprimierenden Typ in einer irgendwie deprimierenden Neubauwohnung wohnt – recht altklug über ihre früheren Vorstellungen, die so zu dem werden, was der sanft sozialarbeiterische Ton des fragenden Regisseurs schon früher nahegelegt hatte: nicht ernstzunehmende, irgendwie auch beliebige Reaktionen auf die schwierige Umbruchssituation.

Die Helden sind also „angekommen“ in dem, was die Gesellschaft als das Reale definiert. Sie haben sich eingepaßt und eingefügt und wirken manchmal dabei sogar schelmisch. In der verkitschten Schlußszene des Films steht der ehemalige Rechts- und Linksskin „Papa“, der mittlerweile bei der Bundeswehr gelandet ist und sich ums Spießerglück bemüht, mit seiner Freundin im Auto auf einem leeren McDonald's-Drive-in vor Leipzig, und beide denken an früher und machen sich Liebeserklärungen. Natürlich sind einem Obdachlose sympathischer, und man ist erst einmal genervt, weil das alles so prima zur Alles-wird-besser- Propaganda paßt, mit der Leipzig so durch die Gegend rennt: am Anfang asozial, am Ende angepaßt. Andererseits ist das natürlich die herrschende Wirklichkeit, die man auch zur Kenntnis nehmen sollte. Da fühlt sich einer prima beim Bund und hat ein unglaublich spießiges Häuschen, und seine Freundin liest begeistert aus der Bundeswehrbeurteilung vor, die Papa gekriegt hat. Und Papa fühlt sich auch sehr wohl. Der Rest wird eher langweilig sein, denkt man. Der Film ist alles andere als langweilig. Voigt will keinen Leipzig-Film mehr drehen. Detlef Kuhlbrodt

Forum: heute, 14.30 Uhr, Akademie der Künste