piwik no script img

Mann kauft Apfelsaft Von Christian Kortmann

Am Freitag mittag merke ich, daß der direktgepreßte Apfelsaft alle ist. Leerer Kasten untern Arm, raus und nur 70 Meter zum „Getränkeabholmarkt“. Durch die Toreinfahrt, und schon stehe ich im von Garagenverschlägen und einer Hauswand gebildeten Innenhof. An der Tür des Getränkeschuppens steht „Bitte klingeln!“ Ich klingle, und nach einer Minute wird ein Fenster im 3. Stock geöffnet. Ein alter Mann fragt heraus: „Ja, was gibt's?“ „Hallo, ich hätte gern einen Kasten Apfelsaft!“ „Moment, ich komme runter!“

Nach einer weiteren Minute betritt der Getränkemann die Hinterhofbühne: „Eine gute Luft haben wir heute. Von der Luft ist ja immer genug da!“ Der Händler ist lang und hager, Ende 70, hatte vor einiger Zeit „eine Augenoperation“ und ist daher fast blind. Dann geht er ziemlich steifbeinig auf die Lagertür zu und fragt jedesmal: „Wohnste in Nummer 25, in der Wohngemeinschaft?“ Es gibt in Nummer 25 zwar mehrere Wohngemeinschaften, aber ich antwortete nur noch mit Ja.

Die zweite Frage im Ritual: „Bist du Student?“ Wieder bejahen. Und weiter: „Was studierst du denn?“ – „Hauptsächlich Literatur.“ – „Ach, Literatur! Ich dachte, du studierst etwas Ordentliches!“ – „Was wäre denn zum Beispiel ordentlich?“ – „Ja, ich dachte an Bauingenieurwesen hier an der Fachhochschule. Literatur, das ist doch Goethe und Beethoven und so.“ – „Na ja, Beethoven vielleicht weniger. Wo soll ich denn den Kasten hinstellen?“ – „Hier vorne gleich. Oder Zahnmedizin! Manchmal denk' ich mir, ich wäre besser Zahnarzt geworden: Einen Zahn ziehen“, und er hält die Hand auf, „und schon 60 Mark!“

Ich hole mir den staubigen vollen Kasten aus einer Schuppenecke. Der Apfelsaft sei teurer geworden, weil dem regionalen Direktsaftpresser die Äpfel ausgegangen seien: „Er bezieht jetzt aus der Schweiz.“ „Aus der Schweiz?“ frage ich, weil ich noch nie davon gehört habe, daß man in Niedersachsen jetzt Rohstoffe aus der Schweiz „bezieht“. „Ja, aus der Schweiz“, bestätigt der Händler, und ich bin sicher, daß es sich um die „Holsteinische“ oder „Sächsische Schweiz“ handeln muß.

„So, kommen wir nun zum gemütlichen Teil“, womit er das Bezahlen meint. Ich gebe ihm einen 20er, und er streckt mir seine rechte Handhöhlung voller Kleingeld hin, aus der ich mir das Wechselgeld zusammensuche, weil er die Münzen nicht mehr erkennt. Plötzlich: „Willste den Katalog auch noch, oder legst du da keinen Wert drauf?“ „Welchen Katalog?“ erwidere ich, und er zeigt mir einen noch eingeschweißten Werbegeschenkkatalog: „Den haben sie mir gestern geschickt!“ Kopfschütteln: „Nein, danke, den brauche ich nicht.“ – „Ja, ich auch nicht, und die auch nicht, deshalb verschicken sie ihn ja.“

Ich verabschiede mich und will gehen, als der Chef mich aufhält: „Wir haben noch was zu erledigen!“ Er geht zu den Briefkästen, kommt mit einem Stapel Post zurück, hält ihn mir hin und sagt: „So, lies mal vor!“ Ich lese die Adressen ab, und jeden an ihn adressierten Brief stopft er in die linke beige Elastan-Hosentasche, alle anderen in die rechte. Wir sind schnell durch, ich sage „Bis dann!“, er wünscht mir eine „Gute Reise!“

„Und“, ruft der Getränkemann mir noch zu, „immer gut einatmen, dann wird der Kasten leichter!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen