„Darum danke ich Herrn Harada“

Nach dem Olympiasieg von Japans Skisprung-Team vor Deutschland hat Masahiko Harada trotz der gewohnten Dualität seiner Sprünge als Sündenbock ausgedient  ■ Aus Hakuba Matti Lieske

Niemand vermag sich so virtuos zu freuen wie Masahiko Harada. Nachdem das japanische Skisprungteam Gold im Mannschaftswettbewerb von der Großschanze gewonnen hatte, verfiel der 29jährige von hysterischem Gelächter blitzartig in hemmungsloses Schluchzen und zurück, gelegentlich blieb er bei einer Mischung aus Lachen und Weinen hängen.

So wie er jubelt, springt Harada auch. Mal fliegt er in unglaubliche Weiten, im nächsten Augenblick bringt er nicht viel mehr als einen Hüpfer zustande – oft genau dann, wenn es darauf ankommt. Vor vier Jahren in Lillehammer verpatzte er den Japanern mit seinem letzten Sprung die Goldmedaille, weil ihn Jens Weißflog erschreckt hatte. Ein Versagen, das ihm vier Jahre lang unbarmherzig als Stigma anhaftete. Und gestern wäre es fast wieder so gekommen.

Pünktlich zu Haradas Sprung im ersten Durchgang wurde das Wetter, das sowieso ein vernünftiges Skispringen kaum zuließ, vollends gräßlich. Dichtes Schneetreiben, eine Sicht, die gen Null tendierte, eine Anlaufspur, die im Handumdrehen zuschneite. Nur der direkt vor Harada startende Deutsche Hansjörg Jäkle hatte ähnlich katastrophale Bedingungen. Die Jury unterließ es jedoch, den Wettkampf zu unterbrechen, und jagte die Springer unbarmherzig über den Schanzentisch. „Es war extrem schwierig“, sagte Harada, der im Wettbewerb von der kleinen Schanze mit einem schwachen zweiten Sprung den Sieg verspielt hatte und auf der Großschanze mit einem schlechten ersten.

Da hatte er am Ende immerhin Bronze gewonnen und geglaubt, daß ihm dies „Motivation für die weitere Karriere“ sein würde. Im Blizzard von Hakuba aber erreichte der Doppel-Weltmeister wegen der verschneiten Spur nur die niedrigste Anlaufgeschwindigkeit aller Teilnehmer und die viertschlechteste Weite des Tages: 79,5 Meter. Jäkle brachte es immerhin auf 96 Meter.

Selbst Großschanzen-Olympiasieger Kazuyoshi Funaki konnte den Lapsus von Harada nicht wettmachen, und nach dem ersten Durchgang führte plötzlich Österreich vor Deutschland, während Japan auf den vierten Rang gerutscht war. Betretene Gesichter bei den Zuschauern auf den vollbesetzten Rängen, die eine lange, beschwerliche Anfahrt auf sich genommen hatten, um den Sieg ihrer Landsleute zu feiern. Alles andere wäre für die Olympia-Gastgeber ungefähr so verheerend gewesen wie für deutsche Fußballfans eine Niederlage im WM-Endspiel gegen, sagen wir, Jamaika.

Dem weit weniger berühmten Takanobu Okabe war es vorbehalten, die Dinge mit einem gigantischen Satz auf 137 Meter ins Lot zu bringen. „Hoch die Treppe, runter die Treppe, es war schwer, sich zu konzentrieren“, kommentierte der Startspringer der Japaner die wetterbedingten Unterbrechungen, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. „Es gab eine Person, die mich wirklich spüren ließ, daß ich mein Bestes geben müßte“, scherzte Okabe später, „darum danke ich Herrn Harada für seinen ersten Sprung.“ Und schon wieder wußte Herr Harada nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Japan übernahm erneut die Führung, starke Sprünge von Sven Hannawald, Martin Schmitt und Jäkle sorgten aber dafür, daß sich die Deutschen nicht abschütteln ließen. Dann kam erneut Harada. Oben auf der Schanze gingen diesem in Erinnerung an Lillehammer nicht die angenehmsten Gedanken durch den Kopf: „Ich war sehr besorgt, daß noch einmal dasselbe passieren würde.“ In der Anlaufspur sei sein einziger Gedanke nur noch gewesen, „so weit wie möglich zu springen“. Das gelang ihm – und gleichzeitig der Beweis, daß jede Pechsträhne ein Ende hat. Diesmal bei akzeptablen Bedingungen flog er auf 137 Meter.

Die Sache war gelaufen, und Harada statt Sündenbock endlich mal Held. Danach konnte auch ein recht guter Sprung von Thoma nicht verhindern, daß es für Funaki bloß noch Formsache war, den Sieg vor Deutschland und Österreich perfekt zu machen und das Publikum zu einem brausenden Applaus und heftigem Fähnchenschwenken zu animieren – die japanische Variante eines infernalischen, ekstatischen, monströsen, geradezu godzillesken Jubelsturms.

Auf die Frage, ob die Japaner an diesem Tag zu schlagen gewesen wären, antwortete Martin Schmitt mit einem klaren „Nein“. Das deutsche Team war nach dem schwachen Abschneiden in den Einzelspringen überaus zufrieden mit der erlangten Medaille. Dieter Thoma machte keinen Hehl aus seiner Genugtuung darüber, es der heimischen Presse ordentlich gezeigt zu haben, „die geschrieben hatte, wir seien wirklich schlecht“.

Schlüssel zum Erfolg sei der Rückgriff auf die alten Skianzüge gewesen. „Wenn es nicht läuft, versucht man eben etwas zu ändern“, meinte Sven Hannawald, gab aber zu, daß die Auswirkung der Textilmaßnahme „mehr im Kopf“ als am Leib stattgefunden habe. Außerdem, begründete er seine starke Vorstellung, sei es ihm am Tage vor dem Mannschaftsspringen endlich gelungen, die Zeitumstellung zu schaffen. Schade für ihn eigentlich, daß es ausgerechnet jetzt kein Springen mehr gibt.