: Neukölln ist überall
■ Gleichgültig, ob Opfer oder Täter: „The Boys“ von Rowan Woods
Wo die Berlinale in diesem Jahr dermaßen viel auf herumirrende Gefühle setzt, mußte irgendwann auch ein Film wie „The Boys“ kommen. In dem australischen Psychothriller von Rowan Woods sind alle Personen komplett hysterisch. Brett hat 12 Monate im Knast gesessen, weil er mit einem Schraubenzieher auf einen Imbißbudenbesitzer losgegangen ist. Er wird auf Bewährung entlassen, betrinkt sich im Kreise der Familie und fährt schon in der zweiten Nacht wieder ein, nachdem er mit seinen beiden Brüdern über ein Mädchen hergefallen ist.
Über die Gewalttat erfährt man weiter nichts, statt dessen zeigt Woods, wie die drei jungen Männer in ihrem Haß auf das Underdogdasein einander aufstacheln, bis eben solche Dinge passieren. Am Ende sind ohnehin alle mit schuld: Die Mutter hat die Söhne mit ihrer Liebe zu sehr vereinnahmt; Michelle, die Freundin von Brett, zweifelt an dessen Männlichkeit; Stevie hat ein Mädchen geschwängert, das er dafür um so mehr haßt; und Glenn fühlt sich von seiner Braut Jackie zu wenig ernst genommen. Bei all den kleinen Enttäuschungen fehlt vor allem jedes zwischenmenschliche Maß, auf das sich die Beteiligten in ihrem Zusammenleben noch einigen könnten. Selbst in der proletarischen Familie ist jeder nur des anderen Wolf, darin zumindest ist Woods noch radikaler als etwa Mike Leigh, dessen „Naked“ den Regisseur bei seinem Spielfilmdebüt offenbar schwer beeindruckt hat. Wenn Brett mit Michelle Sex haben will, mündet der Clinch in einem Büschel Haare, das er ihr wie eine Trophäe ausreißt. Bei Woods hat sie Sache nur einen Haken: Anders als in den Filmen von Leigh ist die Übersetzung von Sprachlosigkeit in Gewalt nicht eine Form der Kritik, sondern Mittel zum Zweck. Wer Opfer ist und wer Täter, spielt am Ende keine Rolle – sondern nur eins: je dumpfer, desto besser. Das ist der Stoff, aus dem sonst Spiegel- Reportagen gemacht sind. Neukölln ist überall. Harald Fricke
Wettbewerb: heute, 15 Uhr, Royal Palast; 23.30 Uhr, Urania; 21.2., 22.30 Uhr, International
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