■ Nebensachen aus Peking: Die paradiesischen Zeiten für Radler sind vorbei
Bis heute überlebt in Europa die Vorstellung, daß Peking eine Stadt fürs Fahrrad sei. Wir erinnern uns an Aufnahmen von den breiten Straßenzügen der chinesischen Hauptstadt, übervoll vom Heer der Drahteselfahrer. Das hatte etwas Archaisches, war aber im Grunde sehr modern: Die Fahrradwege entlang der großen Straßen, um die in Europa Bürgerinitiativen kämpfen, gab es schon.
Inzwischen ist von der Fahrradkapitale des Fernen Ostens nicht mehr viel übrig. Nur wer zufällig den Schichtwechsel vor einem Fabriktor erlebt, kann noch einmal in den Genuß der Masse Fahrad kommen. Die anderen Radler schützen einen vor dem Autoverkehr, der jedoch, je mehr sich die Radfahrer in der Stadt verteilen, rasch an Überhand gewinnt. In der Regel ist der Pekinger Fahrradfahrer nämlich auf sich gestellt: Sogar auf den Fahrradwegen brausen Autos, die unter lautem Gehupe den Staus auf den Fahrbahnen ausweichen wollen. Dagegen protestiert niemand. Im Pekinger Verkehr gilt das Gesetz des Stärkeren, und da ziehen Radfahrer den kürzeren.
Es gehört zur für jeden spürbaren, gleichwohl nicht erklärten Pekinger Stadtpolitik, dem Autoverkehr rücksichtlos Vorrang einzuräumen. Überall entstehen neue Straßen, doch jetzt ohne Fahrradwege. Wer dem Fahrrad dennoch die Treue hält, klagt meistens über Atembeschwerden und Bronchitis. Die Luftverschmutzung in der chinesischen Hauptstadt – laut Weltbank höher als in Mexico City – zwingt die Menschen heute schon, vom Fahrrad auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Das aber schafft neue Probleme.
In Peking ist es praktisch unmöglich, auf legalem Wege eine Monatskarte für die einzige Stadt-U-Bahn zu erstehen. Weil die Bahn zu den Stoßzeiten hoffnungslos überfüllt ist, werden neue Monatskarten nur an die Inhaber bisheriger Karten verkauft. Viel schlimmer ist jedoch, daß die Stadtverwaltung verschlief, rechtzeitig neue Bahnlinien zu planen. So gibt es heute neben den vom Autoverkehr verstopften Straßen weder S- noch Straßenbahn, geschweige denn neue U-Bahnen. Es heißt, unter dem inzwischen der Korruption überführten Bürgermeister Chen Xitong habe fast ein Jahrzehnt lang die Verkehrsplanung brachgelegen. Das rächt sich für 15 Millionen Pekinger.
Das Verkehrschaos gibt täglich Anlaß für unzählige Streitereien und Ärgernisse. Kaum ein Fahrtweg ist zeitlich mehr berechenbar. Für Strecken, die man früher in einer Stunde mit den Fahrrad zurückgelegt hat, benötigt man heute mit dem Bus doppelt so lange. Das Busfahren aber ist die Hölle: Es wird gedrängt, geschubst, gestoßen – die Ellenbogengesellschaft hat den Kommunismus längst verdrängt. Die Partei will das freilich nicht wahrhaben: Deshalb gibt es die Geschichte von Li Suli, die als Busschaffnerin zur Parteitagsdeligierten aufstieg, weil sie die alten Leute und Kinder im Bus stets gut behandelte. Die Pekinger hassen diese Geschichte, hinter der die Stadtverwaltug ihre Unfähigkeit kaschiert, das öffentliche Verkehrssystem zu verbesseren.
Eigentlich gäbe es für Peking eine einfache Alternative: Zurück aufs Fahrrad! Doch daran ist nicht zu denken. Viele alteingesessene Pekinger haben inzwischen ihre traditionellen Backsteinwohungen in der Innenstadt verlassen und sind in moderne Wohnsilos in die Vorstädte gezogen. Dort sparen sie nun für ein Auto und denken gar nicht mehr daran, wie schön Peking ohne Verkehrslärm und Abgase war. Georg Blume
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