: Das geht uns alle an!
■ Der Chor der Schule am Rübekamp bringt ein „Kassandra“-Projekt zur Uraufführung
„Sehen wollen oder nicht sehen wollen: Alle können es sehen, wollen es aber nicht sehen“: für die Schülerin Katharina Harms der aktuelle Aspekt in Christa Wolfs berühmtem Roman „Kassandra“, der, seit er 1983 erschienen ist, an Brisanz nur noch gewonnen hat. Katharina gehört zur Lese- und Regiegruppe einer neuen Produktion des schülerübergreifenden Chors der Schule am Rübekamp, die am Mittwoch im Schlachthof Premiere hat. Die musikalische Leiterin Ingrid Galette-Seidl, die mit ihren jährlichen Operneinstudierungen ja sowieso schon vor nichts zurückzuschrecken scheint, hat diesmal ein Riesenprojekt in Angriff genommen. Bei der Lektüre des Romans im Deutschleistungskurs stand mehr als bei anderer Literatur fest: „Kassandras Liebesfähigkeit und Opferbereitschaft, ihr politischer Wagemut und ihre Opferlust – das geht uns an!“Schnell war die Idee einer „Dramatisierung“geboren: Die SchülerInnen wählten in heißen Diskussionen Texte aus, und der Komponist Erwin Koch-Raphael schrieb sechs Chor- und acht Instrumentalstücke. Ihm war vor allem wichtig, daß „die SchülerInnen aktiv am Entstehungsprozeß der Gesamtform teilnahmen, und so ihre eigene, erfahrene aktuelle Lebensproblematik mit einbrachten“.
Das überquellende Material hat dann die Schauspielerin Senta Bonneval gebündelt und in einen dramaturgischen Guß gebracht. Auch für sie war die spezifische „Auseinandersetzung dieser jungen Menschen mit der Figur der Kassandra“maßgebend: „Ich habe deren ausgewähltes Material benutzt. Aber natürlich ist das auch für mich viel mehr als ein pädagogisches Projekt, ich war erneut erschüttert von dem Schmerzhaften, was Menschen sich antun können“. Kassandra sind in dieser Fassung und Inszenierung sechs Personen, eine Idee von Erwin Koch-Raphael: „Das steht für die Vielfalt dieser Frau, sie ist eine Seherin, eine Liebende, eine Königstochter,...vieles mehr: Viel wichtiger als eine psychologische Gestaltung war, daß die SchülerInnen wirklich wissen, was sie sagen“(Senta Bonneval). „Mut zum NEIN-Sagen, Mut zum JA-Sagen“, findet Dorthe. „Die Wahrheit kann uns selbst nicht überzeugen, wenn wir ihr keinen Glauben schenken“, meint Timo. „Sie macht beim Kriegsgeschehen nicht mit und sie wird deswegen nicht ernstgenommen: Für mich ist sie eine Zukunftsperson, und zwar eine weibliche“, sagt Katharina.
Text – Musik – da fehlt noch die Bühne: Die Malerin Ele Hermel und die Bildhauerin Sabine Emmerich gestalteten sie mit sechs Jugendlichen, die zum Teil seit zehn Jahren bei Ele Hermel im Malkurs im KUBO sind. „Die haben sich auch erstmal durch das Buch gekämpft. Das Wichtigste war: eine Grundstimmung finden, welche Farben entsprechen einer Kassandra-Idee?“Rot-schwarz wurde wieder verworfen, unter anderem deshalb, weil es nicht ausleuchtbar ist. „Kassandra: Das ist ganz hell und das ist ganz dunkel“, glaubt Ele Hermel. Mit dem ebenso seltsamen wie berühmten Grün des Isenheimer Altars von Mathias Grünewald – „Gelb mit Schwarz statt Gelb mit Blau“, so Ele Hermel – wurde ein Schachbrettmuster als Boden gebaut, 35 Kostüme aus geschenkten Laken genäht und ebenso grün gefärbt. „Das Schachbrett steht für Haß und Liebe, Krieg und Frieden, Hell und Dunkel, und alle großen Polaritäten“, sagt Ele Hermel, die mit ihrer Gruppe im vergangenen Jahr schon die Bühne für „Undine“von E.T.A. Hoffmann angefertigt hat. Das Projekt darf mit Spannung erwartet werden: Die Zusammenbindung der Künste Text, Musik – in der Uraufführung eines renommierten Komponisten –, Malerei und Darstellung ist allein von der Produktion her als einmalig einzustufen . Ute Schalz-Laurenze
Premiere Mittwoch, 4.3.98 20 Uhr im Schlachthof, weitere Aufführungen 18. und 19.3.
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