■ Böse Erinnerungen an das Studentenwohnsilo und einen Studentenjob
: Meßknecht in Tü

Nirgendwo sonst hierzulande liegen Jobs reichlicher auf der Straße als im Speckgürtel Stuttgarts, der sich übers Aichtal hinaus bis nach Tübingen erstreckt, jener selten schätzenswerten Universitätsstadt am Neckar, gelegen zwischen warzenförmigen Bergbuckeln, strohigen Räuberwiesen, modrigen Waldlichtungen, rostenden Grillanlagen und verölten Fließgewässern sonder absonderlich-abscheulicher Zahl.

Tübingen ist übel. Seine Bewohner, bestärkte mich kürzlich eine Ex-Neuendettelsauerin, sind überwiegend von heimtückischer Art. Sie trachten nach deiner Laune, kompromittierten deine Hoffnungen auf eine Welt jenseits der Schwäbischen Alb und graben die verhängnisvollsten Blumenrabatten ins Stadtbild, einen konzeptionslos zusammengeknüppelten Haufen zum Brechen pittoresker Altstadtkulissenschiebereien und irregeleiteter Tempo-30-Zonen.

Der Tübinger fährt bevorzugt mit dem Tübus. Dieser knattert, der Tübinger gackert, seine Umwelt verpestend, bartgerade drauflos und gondelt gen Kusterdingen und Kirchentellinsfurt, manchmal verirrt er sich auch Richtung Reutlingen in die Disco, beide Örtlichkeiten noch verstörender.

Seinen Kopf befreit man von all der Plage beim Kneipen. Im Hades verkehrte ich regelmäßig. Daselbst verbrachten Schelling, Hölderlin, Goethe und Hegel die Nacht zum Denken. Auf dem Heimweg knüppelte Hegel, zorniger Jakobiner, der er war, mit nackter Faust arglose Passanten nieder, die durch finstre Häuserzeilen furchtsam wackelten. Er traf immer die Richtigen. Ich für meinen Teil mußte eine Zeitlang zügig wieder heim, ins Studentenwohnsilo Waldhäuser Ost, ein Inferno an zwanziggeschossiger Unterbringungsunkultur. Morgens trat der Nachbar, seines Kainszeichens wahnsinniger Biochemiker, unangemeldet meine Tür zu Schrott und belehrte mich während des Frühstücks darüber, Paprika sei nie und nimmer eine Gemüsefrucht, sondern „so Pulver in Döschen“.

Was blieb mir anders übrig, als arbeiten zu gehen. Ortstypische Rufe eilten der Beschäftigungspraxis des Landvermessungsbüros Helle voraus. Eine erfahrene studentische Hilfskraft rühmte sich, um 7 Uhr 12 wieder entlassen worden zu sein.

Ich hielt eineinhalb Tage durch. Zunächst hatte ich selbständig irgendwelche Meßgeräte in den bereitstehenden VW-Bus zu schichten, dann ging's Volldampf nach Kirchentellinsfurt. Neben einem Turnhallenrohbau sollten Parkplätze entstehen. Ich kletterte aufs Gerüst, Meßvizemeister Beck stapfte mit seinem fotooptischen Apparat etwa zweihundert Meter weit weg. Meine Mission: das wackelnde Prisma so auszurichten, daß der geniale Ingenieur in seinem wichtigen Kasten planungsrelevante Daten protokollieren konnte. Wohlgemerkt, eine Instruktion war vor Dienstantritt nicht für notwendig erachtet worden. Musterschwabe Beck brüllte minutenlang „Von!“, „Gegen!“ und „Weg!“, ich stellte den Stab mal hier-, mal dorthin, und fernab sah ich einen Parka, der wegwerfende Gesten veranstaltete. Unter mir hatte sich der Bautrupp geschlossen eingefunden und genoß das außerplanmäßige Freilichtspiel. „Von! Voooooooooooooon!!“ – „Neeeinn! Gegen!! Gee- geenn!“ – „Neinnein, weiter!“

Im Wagen nörgelte Beck: „Die Zahlen können wir vergessen. Wir müssen noch Kusterdingen schaffen“, und kniff seine Plockwurststulle. Zu Kadingen krabbelte ich prismenbewehrt auf abschüssiger Strecke zwei Stunden zwischen Schlammlöchern und Dornhecken herum, bis der brillante Arbeitgeber kapitulierte und erschlagen ächzte: „Gut, Sie sind zu blöd. Noch KDs aufnehmen.“ – „KDs aufnehmen?“ – „Kanaldeckel aufnehmen, Sie Idiot!“

Den übernächsten Morgen verbrachte ich absichtlich Schlechtes träumend. Vorher, einen halben Tag lang, hatte ich, Meßknecht in Tü, erst ordnungsgemäß entlassen werden müssen. Becks letzte Worte, nachdem seine Gummistiefel auf der VW-Bus-Ablage gelandet waren: „Abputzen.“ Jürgen Roth