: Leinöl, Sand und Nostalgie
Man nehme ein altes Rezept, eine neue Idee und informiere die Fans in aller Welt, daß ihr Spielzeug wieder zu haben ist: die Erfolgsgeschichte der Anker-Bausteine ■ Aus Rudolstadt Heide Platen
Gerhard Thormälen staunt immer noch Bauklötze. Und das in einer Wunderwelt voller Schlösser, Burgen und Traumhäuser. Die stehen auf Tischen und Regalen, in den Büros, in den Fertigungsräumen, im Lager. Die kleine Spielzeugfabrik im ostthüringischen Rudolstadt ist im Aufschwung Ost. Dabei funktioniert sie eher wie eine frühkapitalistische Manufaktur. Jede Menge Handarbeit und wenige, kleine Maschinen. Thormälen, der 60jährige Vertriebsleiter, liefert in alle Welt, von Japan bis nach New York.
Kühl fühlen sie sich an, die Produkte der Modellbaustein-Spiele GmbH. Glatt und weich zugleich, mit abgerundeten Kanten. Sie duften seltsam, wie eine Mischung aus Brühwürfel und Linoleum. Diese beiden Bausteine hier sind ziegelrot und kaum voneinander zu unterscheiden. Der eine stammt aus Urgroßvaters Baukasten, weitergegeben in vierter Generation. Der andere ist nagelneu. Beide erzählen Industriegeschichte. Der eine vom beispiellosen Aufstieg eines geschäftstüchtigen, skrupellosen und fortschrittlichen Multiunternehmers im vorigen Jahrhundert – der andere, der neue Stein erzählt von der erfolgreichen Neugründung eines Traditionsbetriebs nach der Wende.
Beide Geschichten beginnen mit dem Thüringer Reformpädagogen Friedrich Fröbel. Er hatte 1838 Systemspielzeug für Kinder entwickelt. Seine Baukästen basierten auf dem Würfel. Die Brüder Lilienthal, Berliner Erfinder und Flugpioniere, waren von dem Spielzeug begeistert. Gustav Lilienthal hatte die Idee, die Fröbelschen Holzklötze naturalistisch aus steinähnlichem Material zu fertigen. Er nutzte dazu alte Rezepte, mit denen schon in barocken Repräsentierbauten falsche Marmorsäulen zusammengebacken worden waren. Die Masse bestand aus Quarzsand für das Gewicht und die Festigkeit, Kreide für die Glätte und Leinöl zum Binden. Das Pulver wurde gefärbt, gepreßt und getrocknet. Die Steine imitierten gelben Sandstein, rote Ziegel und blaugrauen Schiefer. Lilienthal entwickelte auch die Maschinen und begann eine kleine Produktion, fand aber in Berliner Geschäften keine Abnehmer.
1880 ließ er sich überreden, seine Rezeptur an den Rudolstädter Unternehmer Friedrich Adolf Richter zu verkaufen. Der war geschäftstüchtiger und ließ das Verfahren noch im selben Jahr patentieren. Richter war eigentlich Hersteller und Vertreiber von „Geheimmitteln“, Arzneien, deren Wirksamkeit von Ärzten und Apothekern immer wieder bezweifelt wurde. Sein berühmtestes Produkt war der „Pain-Expeller“ gegen Glatzen, Rheuma, Heiserkeit – es enthielt Salmiakgeist und Spiritus. Richter war einer der ersten Firmenbesitzer mit Direktvermarktung, Versandhandel und Firmenlogo: Der rote Anker wurde auch zum Markenzeichen für die Anker-Bausteine. Lilienthal versuchte später vergeblich, das Verfahren zurückzubekommen, und ruinierte sich dabei. Richter wurde mit den Steinen steinreich.
Die Anker-Bausteine waren das erste Systemspielzeug und Trendsetter. Sie waren erschwinglich, konnten nach und nach ergänzt werden und stapelten sich schnell in immer mehr Kinderzimmern. Richter bewarb das neue Spielzeug mit bunten Zeitungsinseraten, ebenso wie die Elixiere, Schokoladen und Schallplatten aus seinem Mischkonzern. Er gründete einen Verein der Anker-Freunde und gab deren Zeitung heraus. Die genau berechneten Steine, die nur nach strengem System wieder in ihre Kästen eingeräumt werden konnten, sollten nicht nur räumliches Vorstellungsvermögen, sondern auch logisches Denken und den Ordnungssinn der „kleinen Bau-Ingenieure“ fördern.
Damit trugen die Kästen dem Lebensgefühl Rechnung: Kinder in den engen Großstädten stapelten nach bunten Vorlagen Burgen und Landvillen aufeinander, Großväter versuchten sich als Hobby-Architekten. Bauhaus-Gründer Walter Gropius wurde Anker-Fan und nahm an einem Vereinswettbewerb teil. Künstler entwarfen Gebäudemodelle für das Spielzeug. Was der Zeitgeist verlangte, lieferte Richter: Brückenbaukästen für die Fans der Ingenieurkunst und später Festungsbaukästen für angehende Weltkrieger. In aller Welt konnte der Rudolstädter Unternemer Filialen eröffnen. Selbst die Kinder des Zaren, warb er stolz, spielten mit Anker-Bausteinen.
In ihren Hochzeiten produzierte Richters Firma bis zu 50.000 Kästen jährlich. Für Gerhard Thormälen ist der thüringische Unternehmer bis heute „der absolute Werbestratege“. 1963 stellte die DDR die Produktion ein. Das Spielzeug, vermutet Thormälen, habe „nicht mehr in die Zeit gepaßt“: „Schlösser und Burgen, das hatte immer einen Hauch von Feudalismus.“ Außerdem sei damals eben Plaste und Elaste angesagt gewesen.
Dreißig Jahre lang mußten die Anker-Freunde auf Nachschub für ihr Lieblingsspielzeug verzichten. Das machte die Kästen zum Kultobjekt. Sie wurden teuer gehandelt und in Museen ausgestellt. Nun verschickt Gerhard Thormälen sie wieder weltweit. 5.000 Stück waren es 1996, 20.000 sollen es Ende 1998 werden. Nächstes Jahr muß die Firma, die von der Bundesanstalt für Arbeit, vom Land und aus Europamitteln gefördert wurde, schwarze Zahlen schreiben.
Vertriebsleiter Thormälen knüpft bewußt an die Anker-Philosophie an, setzt nicht nur auf pädagogisch korrektes Spielzeug, sondern auch auf Sammler und die Nostalgie bei Eltern und Großeltern. Daß eine Kindheitserinnerung an die Klötze auch schmerzhaft sein kann, weiß er vom Bundespräsidenten. Roman Herzog sei von seinem Bruder mit den massiven Steinchen beworfen worden. Einer der ältesten Anker-Baumeister ist der 79jährige ehemalige Bundesbankdirektor Ludwig Kesselring. Er schickt, wie andere Besessene auch, regelmäßig Fotos seiner Bauwerke. Dann reißt er sie ein und beginnt einen Neubau. Das hat der amerikanische Sammler George Hardy nicht nötig. Er besitzt 140.000 Steine.
„Unsere Sammler sind schon eine seltsame Spezies“, sinniert Claudia Müller, die Frau, die das Produktionsverfahren für die Steine in zweijährigen Versuchen neu „entdeckte“. „Die haben eine enorme Liebe zum Detail.“ Deshalb ist eines der wichtigsten Arbeitsgeräte die Schieblehre, mit der die Steine ständig nachgemessen werden: „Wir dulden keinen Zehntelmillimeter Abweichung.“ Die neuen Steine müssen den alten zum Verwechseln ähnlich sehen. Sie werden auch wieder in Holzkästen mit alten Motiven auf dem Schiebedeckel verpackt: „Wehe, es stimmt etwas nicht, dann werden wir sofort von Anker-Fans angerufen.“ Der Neubeginn in der Rudolstädter Fabrik ist vier Anker-Freunden zu verdanken. Den Anfang machten der Münchner Elektrotechnikprofessor Georg Plenge und das Rudolstädter Ehepaar Hahn.
Die Zutaten der Steine waren bekannt, die Mischung nach 30 Jahren aber verlorengegangen. Thormälen: „Das war zu DDR- Zeiten ein großes Geheimnis. Nur einer konnte mischen. Wenn der krank war, lief nichts“, erinnert sich Claudia Müller. Die Verfahrenstechnikerin wurde beauftragt, mit den Zutaten zu experimentieren: „Das war eine richtige Forschungsarbeit. Abwiegen, mischen pressen und gucken, was dabei rauskommt.“ Kinder spielten mit den Prototypen Probe. Bis die Mischung stimmte – nach zwei Jahren Arbeit. Sie wird nun wieder nicht verraten und ist, sagt Müller, „kapriziös: Sie ändert ihre Eigenschaften mit dem Wetter.“
Seit 1995 stehen in der kleinen Fertigungshalle auf dem Gelände eines ehemaligen Chemiefaserkombinats am Rand von Rudolstadt nun wieder Spielzeugmaschinen. Eva Ammer ist eine der 30 Angestellten. Sie hebt beide Arme zu dem großen Drehkreuz, zieht es Hand über Hand an, preßt einmal kräftig, fährt das Kreuz zurück, dann dasselbe noch mal. Dann legt sie den Hebel unter der Maschine um, der den Baustein aus der Schablone hebt. Einen einzigen pro Arbeitsgang. Sie putzt die Presse, fegt neues Pulver in den Schacht und wieder mit den Händen nach oben, drücken, pressen, putzen. Acht Stunden täglich: „Das geht auf die Bandscheibe.“ Eva Ammer ist 58 Jahre alt. Vor der Wende hat sie 23 Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet, danach sich mit ABM durchgeschlagen. Sie ist froh, noch einmal eine Stelle bekommen zu haben. Nun steht sie jeden Morgen ab 5.15 Uhr an der Maschine. Die stammt aus DDR- Beständen der 50er Jahre. „Sklavenmaschinen“ nennen Geschäftsleitung und Arbeiterinnen die alten Geräte. Die Frauen arbeiten nicht im Akkord. Das läßt die empfindliche Pulvermasse nicht zu.
Ammers Kollegin Margarete Kuska, auch sie eine Ex-Langzeitarbeitslose, bedient mit gebeugtem Rücken eine Neuanschaffung. Die funktioniert hydraulisch und wirkt doch anachronistisch. Die Maschine ist eine Sonderanfertigung und kann, mit Knopfdruck statt Drehkreuz, immerhin vier Bausteine in einem Arbeitsgang produzieren. Alles andere, putzen und füllen, die Backbleche belegen für den Trockenofen, das bleibt Handarbeit: „Nö, sehr abwechslungsreich ist das nicht. Aber alles Gewohnheit.“
Margarete Kuska ist jetzt 49 Jahre alt, und die Aussicht, noch zehn Jahre lang Steine zu pressen, entlockt ihr ein „Au weia!“ Aber stolz ist sie doch auf ihre Firma. Viele Rudolstädter bauen in ihrer Freizeit Modelle. „Manchmal allerdings übertreiben Anker-Bauer etwas“, meint Claudia Müller: „Der Versuch mit dem Eiffelturm ging schief.“
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