: Je stärker die Währung, desto mehr Heuschrecken Von Ralf Sotscheck
Dem jungen Mann geht es nicht gut. Er kniet auf dem Gehweg vor der Kneipe in Dublins Temple- Bar-Bezirk und übergibt sich ständig. Sein Kopf ist mit Rasierschaum und Konfetti bedeckt, seine Hände sind mit Handschellen aus gelbem Plastik gefesselt. Dennoch umklammert er mit beiden Händen ein Glas Whiskey, dessen zahlreiche Vorgänger ihn offenbar in diesen erbärmlichen Zustand versetzt haben. Um ihn herum stehen sieben Freunde und erkundigen sich besorgt nach seinem Wohlbefinden: „Alles in Ordnung, Kumpel?“ Aha, Engländer. Der Akzent ist auch in gelallter Form unverkennbar.
Es ist eine jener „Stag Parties“, wie der Abschied vom Junggesellenleben anschaulich genannt wird. Der künftige Bräutigam und seine Freunde haben dabei nur ein Ziel vor Augen: soviel Alkohol zu trinken, bis sie überlaufen. Der junge Mann mit den Plastikhandschellen hat sein Ziel bereits erreicht, die anderen sieben sind auch nicht mehr allzuweit davon entfernt.
Die Iren sind Invasionen von der Nachbarinsel gewöhnt. Keine davon war friedlicher Natur. Die „Hirschfeiern“ sind es auch nicht. Seit sich herumgesprochen hat, daß die irische Hauptstadt längst nicht mehr das verschlafene Nest früherer Zeiten ist, sondern über ein hektisches Nachtleben verfügt, fallen an den Wochenenden immer mehr Gruppen junger Engländer wie Heuschrecken über Dublin her. Je stärker die Sterling-Währung, desto mehr Heuschrecken. Dublin ist inzwischen das beliebteste Kurzreiseziel in Europa.
Die meisten Pubs und Nachtklubs in der Innenstadt haben „Bouncer“ eingestellt. Offiziell heißen sie „crowd control engineers“, Techniker für Massenkontrolle. Sie sind korrekt mit Anzug und Fliege gekleidet und unerbittlich, wenn sie eine Stag Party herannahen sehen. So schleichen sich die jungen Männer einzeln in die Pubs, um die Türdrachen zu überlisten. In den Hotels sind sie ebenfalls nicht gern gesehen. Kein Wunder: Voriges Jahr wollte eine solche Gruppe nach der Sperrstunde im Hotelzimmer weiterfeiern. Weil die Zimmer dafür zu klein waren, rissen die Barbaren kurzerhand die – zugegebenermaßen nicht sehr stabilen – Trennwände ein und verwandelten die Einzelzimmer in einen großen Schlafsaal. Da ihnen beim Feiern das Mobiliar im Weg war, lagerten sie es im Hof aus, und zwar auf dem kürzesten Weg: durch das Fenster im zweiten Stock. Seitdem fragt man bei telefonischen Reservierungen aus England nach Alter und Ehestand, wenn mehr als zwei Zimmer gebucht werden.
„Hen Parties“ sind dagegen willkommen. Zwar geht es bei dem weiblichen Pendant zur Stag Party ebenfalls ums Trinken bis zum Abwinken, aber wenigstens sind Hühnchen friedlicher als Hirsche. Und sie sind besser organisiert, manch Wochenendplan sieht aus wie eine militärische Operation. Sie beinhaltet am Nachmittag das unvermeidliche Abenteuerspiel, bei dem es unter anderem darum geht, einen Polizisten zu küssen. Englischer Humor ist mitunter unergründlich. Die meisten Teilnehmerinnen kehren jedenfalls zufrieden nach England zurück, ohne sich an irgendwelche Einzelheiten ihrer Reise zu erinnern. Dublin ist vermutlich nicht nur die meistbesuchte Stadt Europas, sondern auch die unbekannteste.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen