: Demonstration der Lebenden
Orte der Revolution (Folge 7): Auf dem Gendarmenmarkt waren die Opfer des Barrikadenkampfs aufgebahrt. Der Trauerzug wurde zu einer Kundgebung für Freiheitsrechte ■ Von Jürgen Karwelat
Die Leichen der umgekommenen Barrikadenkämpfer wurden in der Nacht vom 20. auf den 21. März aus allen Teilen der Stadt in die Neue Kirche am Gendarmenmarkt gebracht, den heutigen Deutschen Dom. In der Kirche spielten sich erschütternde Szenen ab, als viele Angehörige ihre vermißten Verwandten zwischen den Dutzenden von Leichen wiederfanden. In der folgenden Nacht waren bei Fackelschein Hunderte von Männern damit beschäftigt, an der großen Freitreppe der Kirche eine gigantische Holzkonstruktion als Trauer-Katafalk aufzubauen. Darauf stellten sie am Morgen 183 Särge. Bei 33 Leichen hatte man die Identität nicht feststellen können. Insgesamt waren 303 Bürger gefallen, darunter 11 Frauen.
Das Beerdigungskomitee hatte auf Druck des Volkes beschlossen, die gefallenen Soldaten und Bürger nicht gemeinsam zu beerdigen. An dem Trauerzug zum Friedrichshain nahmen mehrere zehntausend Menschen teil.
Adolf Streckfuß berichtete über diese Ereignisse: „Die Särge blieben am ganzen Vormittag des 22. März vor der Neuen Kirche öffentlich ausgestellt. Eine endlose Menschenmasse aus allen Ständen der Residenz wogte während dieser Zeit auf dem Gensdarmenmarkt auf und nieder. Fast alle Anwesenden waren in tiefer Trauer, welche sie auch noch vierzehn Tage lang trugen. Aus vielen Häusern wehten neben der dreifarbigen deutschen Fahne schwarze Trauerfahnen. Eine tiefe Stille herrschte, obgleich viele tausend Menschen auf dem Gensdarmenmarkt sich versammelt hatten, als das Musikcorps den Choral ,Jesus, meine Zuversicht‘ ertönen ließ. Nachdem drei Geistliche, ein Protestant, ein Katholik und ein Jude, ergreifende Worte an das Volk gerichtet hatten, setzte sich unter dem Läuten der Glocken von allen Kirchen Berlins der ungeheure Leichenzug gegen zwei Uhr nachmittags in Bewegung. Er nahm den Weg über die Charlottenstraße, die Linden, den Schloßplatz beim Schloß vorbei und dann die Königstraße entlang.“
Der Beerdigungszug nahm den Charakter einer Demonstration an, in der das Volk mit Ernst und Entschlossenheit seine Bereitschaft ausdrückte, für seine Rechte zu kämpfen und notfalls das Leben zu riskieren. Der Trauerzug war zu einer Demonstration für Freiheits- und soziale Rechte geworden.
Adolf Streckfuß schrieb weiter: „Der Anblick der zahllosen Särge machte einen tief erschütternden Eindruck, der sich aber milderte durch die pomphaften Schaustellungen der unzähligen Fahnen, blitzenden Säbel und allegorischen Darstellungen, die zur Schau einhergetragen wurden. Es war viel unnatürlich Gemachtes, viel Prunk mit der Trauer, aber im ganzen nur wenig wahre Trauer bei diesem pompösen Leichenbegräbnis, welches die Berliner mehr sich selbst, um ihre Revolution und also die Lebenden zu ehren, als im Leid um die Gefallenen veranstaltet hatten.“ Jürgen Karwelat
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