Raubtierdressur und Körpersprache

■ Das Internationale Sommertheater eröffnete mit drei Produktionen seine 12. Spielzeit: LaLaLa Human Steps' Choreografie über das Altern, Hotel Pro Formas Zwergen-Performance und Meg Stuarts neues Leidensmosaik

Es gibt viele sogenannte Festivals auf dem Gelände von Kampnagel, doch die wenigsten verdienen diesen Namen. Fehlende Versammlungspunkte (wie bei den Minifestivals der Spielzeit), dröge-spießiges Publikum (wie oft beim Kabarett-Festival) oder schlicht die fehlende gastronomische Attraktivität sorgen dafür, daß sich kein kommunikatives Zentrum entwickelt, ohne welches ein Festival nunmal nur eine Veranstaltungsserie darstellt. Nicht verwunderlich also, daß sich viele Kampnagelbesucher besonders auf das Sommertheater freuen, das – so das Wetter mitspielt – nicht nur außergewöhnliche Aufführungen, sondern auch Plätze zum Feiern aufbietet.

Fröhliches Geschnatter, trunkenes Volk, Alt- und Zufallsbekanntschaften und eine warme Brise taten dann auch das ihrige zum gelungenen Auftakt des 12. Sommertheaters am Wochenende, trotz eines qualitativ sehr gemischten Programms und Pseudo-Haute Cuisine mit zu kleinen Essensportionen für zuviel Geld.

LaLaLa Human Steps – 2

Nach einer Gemahnung an Bosnien durch die Festivalleitung Dieter Jaenicke und Gabriele Naumann und einem launigen Grußwort der Kultursenatorin Christina Weiss begann das Festival mit einem Klassiker, soweit man bei der relativ jungen Gattung Experimentelles Tanztheater bereits von einem solchen sprechen kann: LaLaLa Human Steps, wie viele andere Compagnies des diesjährigen Festivals alte Bekannte auf Kampnagel, haben vor etwas mehr als einer Dekade mit ihrer aggressiv-athletischen tänzerischen Arbeit einen initialen Impuls in die Internationale Tanzszene gegeben.

Die kanadische Compagnie, deren Kern der Choreograf Édouard Lock und die Tänzerin Louise Lecavalier bilden, inszeniert die körperliche Attacke im gegenseitigen Vertrauen als Sinnbild eines würdevollen Kampfes. Auch ihr neues Stück vertraut auf die höchste Energieleistung und die technische Perfektion schweißloser Schwerelosigkeit. Doch hat Lock in „2“ das Altern, das bei Tänzern augenfälliger wirkt, als bei anderen Künstlern, als Antithese zur notorisch apollinischen Jugendlichkeit dieser Gattung formulieren wollen.

Leider hat ihn scheinbar auf halbem Weg der Mut verlassen. Denn anstatt die Hinfälligkeit des Werdens und die Zwietracht von Glanz und Verfall in seine Choreografie einzuarbeiten, löst er den inhaltlichen Aspekt und transportiert ihn auf monumentale Leinwände. In ergreifenden Passagen kontrastiert hier Lock zwischen den Tanzsequenzen eine junge und eine sterbende Louise Lecavalier. Aber diese bedrückende Spannung findet ihn seiner Choreografie kaum mittelbar Anklang.

Glanzvoll und perfekt die schwierigen Schraubensprünge in dutzendfacher Variation, majestätisch distanziert die elektrische Stimmung muskulöser Pas de deux, leicht und bestimmt die kontrollierte Rebellion im Koboldtanz oder bei den kalten Blitzen der erotischen Bezüge – doch wo blieb die Angst? Ist nicht Altern der bedrohliche Zwang zur Ergründung des Seins, die entsetzliche Erschöpfung der Physis für die man die Besinnung des Bewußtseins auf die Prägungen des Lebens gewinnen kann?

Lock erliegt hier der ästhetischen Tagespolitik, daß Kunst auch dann noch schön und edel zu sein hat, wenn sie sich der Angst vor dem Nichts nähert. Und mit dieser Haltung versteckt er die Aggression in Eleganz und die Erregung in Dressur. In der Bildenden Kunst nennt man diese Haltung Manierismus. Das kann beeindrucken und schön sein – und ist es hier auch über die meiste Zeit –, aber die Art und Weise, wie so das Geheimnis einer Idee versteckt wird, ist erhaben, nicht kritisch.

Dazu paßt die Reduktion auf die Farben Schwarz und Weiß – ohne die eine Reflexion über den Tod anscheinend nicht auskommt –, die Verwendung von Barockmusik für Cembalo gegenüber Rock'n'Roll und die klare Struktur der Dualität.

Es soll nicht unterschlagen werden, daß die Vielschichtigkeit und der choreografische Reichtum der Bewegungen der vier Tänzer und vier Tänzerinnen, die beherrschte Athletik und der scheinbar mühelose Einsatz von Kraft und Schnelligkeit dem Verstand einigen Respekt abverlangen. Abgesehen von seltenen Momenten der Langatmigkeit und einer etwas kitschig-esoterischen Sequenz gelingt es Lock meisterhaft, die Bewunderung zu fesseln. Dennoch verläßt man das Stück mit dem Zweifel, ob zu gezielt gezähmte Wildheit nicht doch nur kalkulierte Erregung transportiert, sprich: ob diese Form des Tanztheaters, in enormer Verwandtschaft zum Ballett, wirklich mehr bedeutet, als eine Raubtierdressur für die Gelehrtenrepublik?

Till Briegleb

Hotel Pro Forma – The Picture Of Snow White

Ein gealterter Dorian Gray schreitet über die Bühne. Während er traurige Weisen in einen gläsernen Schalltrichter singt, erscheint Schneewittchen als gestrenges Pin-up. Es wird das Stück The Picture Of Snow White der dänischen Theatergruppe Hotel Pro Forma gegeben.

Doch märchenhafte Stimmung machte sich dabei nicht breit. Zwar versprach die Programmankündigung eine schillernde Reise zu Oscar Wildes Geschichte Das Bildnis des Dorian Gray und dem Märchen Schneewittchens, eine Exkursion über den Mythos Schönheit und einen Blick darauf, was es bedeutet anders zu sein, aber nichts davon wird mehr als angedeutet.

Wie der Titel vermuten läßt, die Zutaten sind hinlänglich bekannt, dürfen die Zwerge nicht fehlen, ebensowenig die böse Stiefmutter. Aus unerfindlichen Gründen sind es der Zwerge acht, während man die Verkörperung der Stiefmutter als Zwillingspaar metaphorisch noch nachvollziehen kann. Dafür bedürfen die Merksätze zum Thema Schönheit, die das eine der beiden (Stief-)Mädchen teilnahmslos in ein Kopfmikrofon sagt, nicht der Entschlüsselung. Die elektronisch verzerrte Stimme berichtet über die Vergänglichkeit der Schönheit, ihre Verwandtschaft mit der Jugend, und daß sie zuweilen im Auge des Betrachters ruhe.

Derlei Plattitüden werden von den Darbietungen der kleinwüchsigen „Zwergen“-Schauspieler durchbrochen. Dramaturgisch meist separiert vom Schneewittchen-Teil betonen diese Einlagen teils das normal-Sein, teils das anders-Sein der kleinen Menschen. Zwei tanzen Hip Hop, zwei bieten sich Muskelmännern als Turngeräte, ein Mann manövriert eine Kugel, die weit über seinen Scheitel hinausragt. Dazu läuft über Band die Lebensgeschichte der Darsteller. Eine kindliche Stimme erzählt von einer Kakerlakensammlung und dem Wunsch ein BMX-Rad mit fünf Gängen zu fahren, ein Mann berichtet von erotischen Phantasien mit zwei Meter großen Frauen, läßt aber auch seinen Ausländerhaß in die Erzählung fließen. In einem dieser Lebensberichte sagt ein Mann, was für ihn Schönheit bedeutet: „eine normale, gesunde Frau“.

Dies ist einer der wenigen hellsichtigen Momente des Theaterstückes. In ihm leuchtet kurz das Wissen um den ver–rückten Standpunkt auf, der eine pervertierte und um Rekorde bemühte Sicht auf den Körper des Menschen verursacht. Ansonsten aber nehmen die „Zwerge“ den Rechtfertigungs-zwang an, den die geläufige, um Fragmentierung und Spezialisierung bemühte Weltsicht nach sich zieht.

Der Regisseurin Kirsten Delholm gelingt es in keiner Weise, die vollmundig gewählten Themen wie Normalität oder Schönheit, die natürlich mit Selbstwahrnehmung und Selbsttäuschung zusammenhängen, zu erhellen. Vielmehr läßt sie ihren kleinwüchsigen Akteuren die vermeintliche und merkwürdige, sozialdemokratisch anmutende Freiheit, sich „individuell“ darzustellen. Damit werden relevante Fragen nicht nur schwammig verarbeitet, sondern die nicht „normalen“ Schauspieler auch in eine Menagerie befördert und dort im Regen stehen gelassen.

Petra Langemeyer

Meg Stuart/Damaged Goods – No One Is Watching

Hätte Meg Stuart etwas von Édouard Locks neuer Arbeit gewußt, man müßte von einem radikalen Gegenentwurf sprechen. Denn alles, was bei LaLaLa Human Steps athletisch und kühn sich elegant verschlingt, findet in Meg Stuarts neuer Arbeit eine Kehrseite aus Verstörung und Weltangst. Menschen ohne Ruhepol, nervös, einsam und haltlos, vergegenwärtigen Joseph Beuys' Parole „Zeige deine Wunden!“ in der Vielheit ihrer Bedeutungen. Daß Tanz gleich der Beherrschung der Psyche vordringlich etwas mit der Überwindung von Hemmnissen zu tun hat, ist selten so transparent geworden, wie in diesem Stück.

Dafür wählt Meg Stuart einen deutlich engeren thematischen und formalen Rahmen als bei ihrer letztjährigen, prämierten Arbeit No Longer Readymades. Die Konzentration auf die Ausdrücke der Angst vermißt den subtilen Humor jener Produktion, gewinnt dadurch aber an beobachtender Schärfe. Erstarrung, Verlegenheit, Selbsterniedrigung, zuckender Widerstand und hilflose Disziplin, die inszenierte Körpersprache der Meg Stuart entfernt sich weit vom Tanz, um von der Unmöglichkeit der Nähe zu erzählen.

Die merkwürdigen Menschen, die so in den vier Frauen und zwei Männern Gestalt bekommen, sind jene Gestalten, die an den Abgründen der Seele balancieren und die man nur wiedererkennt, wenn man gelernt hat, beim Leid nicht wegzusehen. Beim Leid nebenan, am Straßenrand, dem man zufällig begegnet. No One Is Watching beschreibt die Perspektive dieser Seinserfahrung sehr treffend. Nervös oder aufdringlich, versponnen oder panisch, selbstquälerisch oder aggressiv, die Erscheinungsformen innerer Auswegslosigkeit und äußerer Hilferufe finden hier eindringlich ihren Einzug in die Kunst.

Leider stimmt die Dramaturgie des Abends nicht. Denn als nach einer Stunde die offensichtlich scheinbare Ordnung aus den Einzelsteinen des Leidensmosaiks wieder hergestellt ist und die Frage „Was gibt es jetzt noch zu verbergen?“ in der zerbrechlichen Haltbarkeit äußerer Regelung ein schönes Schlußbild findet, ist überhaupt nicht Schluß. Als ob jemand nach der Pointe den Witz nochmal erzählt, aus Angst, jemand habe den Scherz nicht verstanden, so beginnt Meg Stuart mit kaum überzeugenden Sequenzen wieder von vorne und führt das Spiel eine halbe Stunde fort.

Zwar findet sie schließlich doch noch ein Schlußbild der leisen Erzählung, aber der Begeisterung, die so zerdehnt nicht mehr richtig hervorplatzen kann, hat diese Verlängerung nicht gut getan.

Till Briegleb