: Mildtätige Morde ohne Vision
■ Marthalers „Arsen und Spitzenhäubchen“-Inszenierung am Schauspielhaus bleibt trivial
1934 veröffentlichte der 32jährige Arztsohn Joseph Kesselring sein zweites Drama Every Second Death IsA Murder. Fünf Jahre hatte sich die Rate schon dramatisch erhöht: In Arsen und Spitzenhäubchen, dem einzigen der 15 Stücke des Amerikaners, das je Erfolg haben sollte, sind alle 24 Leichen Opfer handgemachter Tücke. Kein Wunder, daß er das Drama erst mal in der Schublade ließ. Ihm sei „plötzlich alles viel zu viel geworden“, schrieb Kesselring entschuldigend; schließlich war er Moralist.
Daß die Geschichte von den zwei alten Damen, die einsame Herren aus Mildtätigkeit mit Arsen von ihrem tristen Dasein befreien, nach seiner Uraufführung 1941 am Broadway vier Jahre lang als schwarze Komödie vor ausverkauftem Haus lief, war ihm fast zuwider. Für ihn handelte es sich bei Arsen... um ein Pamphlet gegen den Nationalsozialismus und die Beteiligung der USA am Zweiten Weltkrieg. Außer ihm sah das aber niemand so. Selbst Frank Capra, der das Werk 1944 mit Cary Grant verfilmte, nannte es „eine altmodische Kriminalklamotte“.
Daß heute der dramatische Tiefstapler Christoph Marthaler, der noch jedem dunklen und dumpfen Gedanken zu theatralischen Höhenflügen verholfen hat, sich der Sache annimmt, hätte dem 1967 Verstorbenen verheißungsvoll erscheinen müssen. Wenn es jemanden gibt, so dachte man vor der Premiere am Samstag im Schauspielhaus, der der totgespielten Kriminalkomödie nicht nur ihren Witz in tiefster Schwärze zurückgeben, sondern sie gleichzeitig zum philosophischen Statement über die liebgewonnene Schlechtigkeit der Welt-an-sich inszenieren kann, dann der Schweizer Prediger der Musik und Langsamkeit.
Und es begann auch alles sehr vielversprechend. Zwei Orgelspieler – Frank-Thomas Link und Clemens Sienknecht, die mit Marthaler eine hervorragende Klangcollage aus Kirchenliedern und Easy-listening-Beat erstellt haben – umarmen sich unter dem Applaus des Publikums, als wollten sie noch einmal ausdrücklich auf die Möglichkeit liebender Eintracht unter den Menschen verweisen. Dann wird der Blick freigegeben auf die von Anna Viehbrock gestaltete Bühne: ein verkommenes Haus in Brooklyn, das wie alle ihrer Bühnenräume über hohe Decken, ver-blichene Tapeten, eine anständige Anzahl freiliegender Leitungen, diverse Türen, Treppen und in diesem Fall noch über einen hübschen schmiedeeisernen Aufzug verfügt. Heide Kipp und Marlen Dieckhoff sitzen als Brewster-Tanten am Kaffeetisch und sprechen ihren Text wie auswendiggelernt, seine Banalität amüsant untergrabend. Und damit keine Fragen offen bleiben, wird die Botschaft Siggi Schwienteks alias Pfarrer Dr. Harper mit kirchlichem Hall unterlegt.
Doch weder Jean-Pierre Cornu, der wunderbar den geistig verwirrten Neffen Teddy spielt, noch Stephan Bissmeier als Neffe Mortimer, der seine Tanten von der Immoralität ihrer Giftmorde überzeugen will und mit Schmidtchen-Schleicher-Beinen glänzt, noch Josef Bierbichler, der als Neffe Jonathan einen erschreckend überzeugenden Boris-Karloff-Verschnitt gibt, können darüber hinwegtäuschen, daß Arsen und Spitzenhäubchen nicht mehr als eine Boulevard-Komödie ist. Und Christoph Marthaler anscheinend keine Vision hatte, sie darüber hinauszuheben.
Für Gesang und Slapstick gibt es viel Zwischenapplaus. Und vieles ist auch zweifelsohne lustig – für ein dreistündiges, spannendes Stück am Schauspielhaus ist das trotzdem zu wenig. Marthaler kassierte einen überraschenden Buh-Chor. Vom Broadway kommt das Stück, und es sieht ganz so aus, als hätte es dort auch bleiben sollen.
Christiane Kühl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen