: Ein Staunen und ein Schwärmen
■ Einst ging es um Jesus und die "Beleidigung einer der ehrenhaftesten Gestalten der Menschheit", heute wandelt Martin Scorsese fromm auf den Spuren des Dalai Lama. Skeptiker wenden sich ratlos ab, der Rest ent
Schon einmal hat der Katholik Martin Scorsese die Welt von Travis Bickle und den Hexenkessel Brooklyn hinter sich gelassen, um sich mit dem Glauben und der Religion auseinanderzusetzen, 1988, als er „Die letzte Versuchung Christi“ drehte und Willem Dafoe Jesus sein ließ. Damals teilte der Filmemacher das Heer der Gläubigen, weil das offensichtlich Kirchenfeindliche bis Gotteslästerliche an Nikos Kazantzakis' Buchvorlage weder zerredet noch zerfilmt werden konnte. Die Filmbewertungsstelle veröffentlichte erstmals eine Erklärung ihrer Prädikatsvergabe („besonders wertvoll“!) und eine Dokumentation der zahllosen, teils schon vor der Aufführung eingegangenen Beschwerdebriefe. Scorses Film – eine „unentschuldbare Beleidigung einer der ehrenhaftesten Gestalten der Menschheit“?
Weit von dieser Aufregung entfernt, ganz lieb, ganz hübsch, ganz ausgewogen und fürchterlich politisch korrekt ist da heute „Kundun“. Dabei enthält eigentlich auch die Biographie des Dalai Lama, wie sie Scorsese von 1937 bis 1959 in 133 Minuten nachzeichnet, jede Menge Konfliktstoff. Aber nicht das Politikum Tibet interessiert ihn, sondern das Faszinosum Tibet, das mythische Land mit seiner entrückten Exotik: Scorsese erliegt widerstandslos dem fragwürdigen Reiz, den der Buddhismus auf weiße Industrieländer am Ende des 20. Jahrhunderts ausübt. Und dem Charme seiner Hauptfigur.
Natürlich ist der Dalai Lama ein Sympathieträger, der freundliche, von niederen Instinkten und materialistischen Anhänglichkeiten befreite Mann und wie er sich seit fast 30 Jahren aus dem indischen Exil heraus für die Rechte und die Freiheit seiner tibetanischen Heimat einsetzt. Und natürlich kann man dem Buddhismus keine Inquisition, Hexenverbrennungen, Hirnwäschen und keine heiligen Kriege anhängen. Bleibt dann aber wirklich nur Staunen und Schwärmen übrig? Ohne Kommentar oder Erklärung zeigt Scorsese die buddhistischen Rituale, Traditionen und Gesten und überläßt immer wieder den Bildern und der Musik des Buddhisten Philip Glass die Leinwand. In solchen Momenten funktioniert „Kundun“, wenn auch nur als tibetanische „Koyaanisqatsi“- Variante.
Scorsese stellt nichts in Frage, weder die repressive tibetanische Gesellschaftsstruktur, in der auch Kettensträflinge dem Dalai Lama noch Ehrbezeugungen darbieten, noch das Konzept der Reinkarnation, das ein bockiges Kind aus seiner bäuerlichen Familie reißt, um es zum geistlichen Führer zu machen. Der Einmarsch der chinesischen Armee erinnert in „Kundun“ eher an eine Robert-Wilson- Inszenierung – maskierte Fahnenträger erobern Tibet. Da wird schmerzhaft bewußt, wie flüchtig, wie oberflächlich die Spiritualität in Scorseses Film ist, wenn um Politik und eine klare Stellungnahme kein Weg führt. Krampfige „Ausgewogenheiten“: Chinesische Kriegsgreuel werden aus der Zeitung vorgetragen, aber die Besatzer dürfen erklären, wie furchtbar die Zustände in China waren, nach kolonialistischer Beeinflussung und vor der Revolution, aber Mao ist ignorant und affektiert. Fortschrittsgläubigkeit böse, Buddhismus gut?
„Kundun“ ist ein Film des Disney-Konzerns, der in China knallharte wirtschaftliche Interessen verfolgt: Kritik an dem Projekt aus Peking wurde mit Hilfe Henry Kissingers zurückgewiesen. Mehr Ecken und Kanten hat Scorseses Film nicht zu bieten. Thomas Klein
„Kundun“. Regie: Martin Scorsese. Mit Tenzin Thuthob Tsarong, Gyurme Tethong, Tulku Jamyang Kunga Tenzin. USA 1997, 133 Min.
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