Orthodoxe revolutionäre Belästiger

■ Nicaraguas Sandinisten streiten um Vergewaltigungsvorwürfe gegen die historischen Comandantes Daniel Ortega und Tomás Borge

San Salvador (taz) – Nach Daniel Ortega jetzt auch noch Tomás Borge: Das historische Führungsduo der nicaraguanischen Sandinisten versinkt im Morast von Sex- Skandalen. Ortega war vor gut zwei Wochen von seiner Stieftochter Zoilamérica Narvaez des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt worden. Jetzt beschuldigt eine Deutsche den letzten überlebenden Gründer der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), Tomás Borge, der sexuellen Belästigung. In einem Ende vergangerer Woche veröffentlichten Brief schreibt die Soziologin Cornelia Marschall, Borge habe sie 1990 gewaltsam geküßt und betatscht.

Sie sei, schreibt sie, bereits 1981 von einem Offizier des Sandinistischen Volksheers vergewaltigt worden, habe den Fall bei der FSLN angezeigt, sei aber nicht ernst genommen worden. 1990 dann habe sie für Borge bei einem offiziellen Treffen als Übersetzerin gearbeitet, unter anderem in der Hoffnung, im persönlichen Kontakt mit dem Comandante ihre Vergewaltigungsklage noch einmal aufrollen zu können. Statt dessen aber, schreibt sie direkt an Borge, „haben Sie mich gepackt, mich gewaltsam geküßt und mich betatscht“. Wochen später sei sie von Borge in ihrer Privatwohnung noch einmal sexuell belästigt worden, unter dem schmierigen Lächeln seiner Leibwächter.

Weder Ortega noch Borge haben die Anschuldigungen bislang öffentlich dementiert. Borge ist seit der Veröffentlichung des Briefes abgetaucht. Und Ortega überließ es seiner Frau Rosario Murillo, der leiblichen Mutter von Zoilamérica Narvaez, die Vorwürfe gegen ihn als „völlig aus der Luft gegriffen“ zurückzuweisen.

Narvaez hat zwar mehrfach gesagt, sie habe Ortega verziehen und werde ihn nicht strafrechtlich belangen. Doch anfang dieser Woche beauftragte sie eine Gruppe von Anwälten mit der Ausarbeitung einer formellen Klage.

Der plötzliche Strategiewechsel könnte politische Gründe haben: Narvaez ist stellvertretende Vorsitzende einer FSLN-Kommission, in der die Grundlagenpapiere für den Parteitag im Mai erarbeitet werden. In dieser Kommission hat sie mehrfach gefordert, Ortega müsse nach zwanzig Jahren im Amt als Generalsekretär der FSLN abgelöst werden.

Sie gehört zu einer Gruppe jüngerer FSLN-Kader, die die Partei in Richtung Sozialdemokratie öffnen wollen. Nach zwei Wahlniederlagen mit Ortega als Präsidentschaftskandidat, so die Überlegung, könne man nur in der politischen Mitte zusätzliches Wählerpotential rekrutieren. Mit den alten Haudegen Ortega und Borge läßt sich das nicht machen. Im aktuellen Sex-Skandal verläuft die Linie klar: Die Reformer glauben Narvaez, die Orthodoxen halten Ortega weiterhin für einen unbescholtenen Familienvater.

Das Sagen aber haben die Orthodoxen: Henri Petrie, Organisationssekretär der FSLN in Managua, und der Führungskader der Sandinistischen Jugend, William Rodriguez, schenkten den Vorwürfen der Stieftochter öffentlich Glauben – und wurden umgehend ihrer Ämter enthoben. Und die politischen Departementssekretäre der FSLN, fast durchweg verdiente Kader der alten Schule, ernannten Ortega schon zwei Monate vor dem Kongreß zum einzig möglichen Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs. Toni Keppeler