■ Sehr neue und hochinteressante Vertriebswege in der Unterhaltungselektronik: Gute Tat, verbunden mit eigenem Vorteil
„Ich hab' da mal eine etwas seltsame Frage: Brauchen Sie Lautsprecherboxen?“ fragte der junge dunkelhäutige Mann aus seinem Lieferwagen heraus. „Eigentlich nicht“, antwortete ich und kam näher. Er hielt mir eine Rechnung unter die Nase: „Zwanzig Paar haben wir quittiert, aber zweiundzwanzig sind drin“, er deutete über seine Schulter. Tatsächlich erkannte ich auf dem Papier die Zahl „20“. „Ich zeig' Ihnen das mal“, meinte sein Kollege und öffnete die seitliche Schiebetür. Er trug, wie der Fahrer, eine braune Liefermannuniform und eine Schirmmütze. Der Laderaum war vollgestapelt mit großen Kartons.
Sie kämen aus Hamburg, erklärte er, sie würden sich hier in Berlin nicht auskennen und müßten die Boxen jetzt zu ihrem Chef fahren. Die überzähligen Exemplare möchten sie wieder loswerden, andernfalls sie ihrem Chef in die Hände fielen, wovon keiner was hätte. Im Laden würden die Dinger viertausend Mark kosten. Zum Beweis hielt er mir eine aufgeschlagene Hi-Fi-Zeitschrift unter die Nase, auf der große Lautsprecher zu sehen waren. Ohne das Bild genauer zu betrachten, verwies ich auf meine desolate finanzielle Situation und meinen boxenmäßig gedeckten Bedarf. Unbeirrt ratterte er die technischen Daten der Geräte herunter. Mir dämmerte, daß sich hier die seltene Gelegenheit bot, eine gute Tat mit dem beherzten Wahrnehmen des eigenen Vorteils zu verbinden. Und so wurden wir bei 550 handelseinig. Wir schleppten die Kartons in meine nahe gelegene Wohnung, und ich ließ ihn eine Box auspacken. Zum Beweis der unglaublichen technischen Überlegenheit dieses Fabrikats hieb er mit der Faust gegen den Tieftöner. Die entstandene Delle entdellte sich fast augenblicklich. „Wenn Sie das mit Ihren machen, sind die hinüber.“
Jeder, der ein echtes und einzigartiges Produkt anbietet, verfügt über die Gabe, dessen verborgene Qualitäten dem unwissenden Laien augenfällig zu machen. Ich erinnerte mich an eine Verkaufsschau in Indien. Eine organisierte Tour zum Taj Mahal endete in einem Geschäft, das kleine häßliche Marmormodelle des großen und erhabenen Bauwerkes feilbot. Vor den Augen der staunenden Touristen wurde der Raum abgedunkelt und nacheinander sowohl in das original Marmorerzeugnis als auch in den betrügerischen Nachbau aus minderwertigem weißem Stein eine Lampe gesteckt. Während das billige Imitat finster blieb, leuchtete das marmorne Original in strahlendem Weiß...
Ich sei ein Glückspilz, meinte der uniformierte Boxenmann, und ich war um so mehr geneigt, das zu glauben, als er mir für die unter der Hand verkaufte Ware auch noch einen offiziellen Lieferschein mit Fünfjahresgarantie ausstellte.
Als ich meinen Neuerwerb hastig angeschlossen hatte, wollte sich das erwartete orgiastische Viertausend-Mark-Klangerlebnis jedoch nicht so recht einstellen. Sicher, sie waren beeindruckend groß und laut, doch klangen sie wirklich besser als meine alten?
Ich gab meine Geschichte abends in meiner Selbsterfahrungsgruppe zum besten, und ich erntete zu meinem Erstaunen mitleidige Blicke. Das sei Freunden auch schon passiert.
Auf dem Lieferschein war von einem siebentägigen Widerrufsrecht die Rede. Ich rief am nächsten Werktag an und machte mit einem freundlichen Herrn mit holländischem Akzent einen Termin aus. Die Firma befindet sich in einem großen Industriegebiet in Berlin-Reinickendorf. Am Briefkasten ein kleines Firmenschild, die Stahltür ohne Klinke. Ich klingele, und ein junger Mann in der mir vertrauten Uniform öffnet. Als ich die neonbeleuchtete Halle betrete, breitet er die Arme aus und fragt mich, was ich wolle und ob ich einen Termin hätte. Der Holländer, der an einem Biertisch beim Essen sitzt, winkt mir zu. Ich werde eingelassen. Ihm gegenüber ein unifomierter, dunkelhäutiger junger Mann, der stur geradeausblickt und auf seinem Brot kaut. Ich erkenne in ihm meinen Hamburger Lieferwagenfahrer wieder und grüße ihn freundlich. Er grüßt mürrisch zurück. Neben dem Tisch stapeln sich die mir bekannten Kartons. Zwei weitere, geöffnete Kartons stehen am Eingang. Ich stelle meine geöffneten Kartons dazu. Im Büro gibt mir der Holländer ohne weitere Fragen mein Geld zurück. Wie viele sie denn so verkaufen würden, will ich wissen. So um die 130 Paar pro Woche, antwortet er. Wie viele denn wieder zurückkämen, frage ich. Nur so vier bis fünf Paar. Marc Rackelmann
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