: Jetzt ist die Zeit zu säen
In einem halben Jahr beginnt das neue Lehrjahr. Um der Misere zu Leibe zu rücken, ziehen 157 Ausbildungsplatzentwickler in den neuen Bundesländern durch die Betriebe. Ihr Ziel: Ausbildungsstellen schaffen. Mit auf Tour war ■ Anja Dilk
Wolfgang Ziehm ist guter Stimmung an diesem verschneiten Januarmorgen. „Na, kommen Sie“, ruft er und gibt seinem Audi die Hacken, „wir haben viel vor heute“. Denn jetzt geht's wieder auf Tour durch die Betriebe: Lehrstellensuche in Berlin-Köpenick.
Der Ostberliner Ingenieurpädagoge ist einer von fünf Ausbildungsplatzentwicklern, die seit 1995, als das Bundesbildungsministerium ein Sonderprogramm gegen die Ausbildungsmisere auflegte, im Auftrag der Industrie- und Handelskammer (IHK) durch die Betriebe ziehen. Ihr Job: Ausbildungsplätze schaffen. Der Weg: Klinkenputzen in den Firmen, Fördermöglichkeiten aufzeigen, motivieren, beraten, dranbleiben.
10.45 Uhr. Häuser, Wiesen, Bäume fliegen vorbei, links der Müggelsee, rechts die Müggelberge, raus Richtung Stadtgrenze. Jetzt, in den ersten Monaten des Jahres, ist die Zeit zu säen, sagt Herr Ziehm. Bis zum September sind die Firmen dann soweit, das umzusetzen. Ein dickes Programm hat er sich für heute zurechtgepackt: Besuche bei Bau- und Keramikfirmen, Ingenieur- und Baubüros. Dafür ist er zuständig. Allein im ersten Halbjahr 1997 stand Ziehm bei mehr als 600 Unternehmen auf der Matte. 20 bis 50 Firmenbesuche sind es jede Woche.
Computerausdrucke mit Basisinfos von Berliner Firmen stapeln sich in seiner bordeauxroten Aktentasche auf dem Beifahrersitz. Ergebnis stundenlanger Recherche am Vortag: In den Handelsregistern aus dem IHK-Computer, durch Informationen von Kollegen, in Anzeigen in Fachzeitschriften oder Tageszeitungen oder in Stellenangeboten. Wer in die Betriebe geht, muß gut informiert sein. Welche Firma bildet nicht aus, welche baut Lehrstellen ab, wer könnte noch Kapazitäten ausbauen? Wo kann ein Ausbildungsverbund helfen, wenn der Betrieb zu klein oder zu spezialisiert ist, um selbst ausbilden zu können? Die meisten Betriebe, die Ziehm besucht, haben noch nie ausgebildet.
11 Uhr. Müggelheimer Straße. „Keranova – Fachhandel für Fliesen und Klinker“ steht in hohen Lettern auf der Werbetafel am Rande der staubigen Einfahrt. Hier spricht Herr Ziehm zum ersten Mal vor. Der Betrieb, eine blitzsaubere Nachwendegründung, besteht erst seit eineinhalb Jahren, im Sommer gerade sind die Eigentümer in den neuen Geschäftsbau eingezogen. Wie so häufig kommt Herr Ziehm unvorbereitet, denn am Telephon wimmeln Firmenchefs oder Vorzimmerdamen oft ab. „Im persönlichen Gespräch“, sagt er und zwinkert siegesgewiß, „sieht das schon ganz anders aus.“ Der sympathische Mittfünfziger, ein Kerl von ganzem Schrot und Korn, weiß worauf es ankommt: Wenn's menschlich stimmt, sagt er, stimmt eben auch das Geschäft.
Der freundliche Jungunternehmer im grauen Norwegerstrick hinter den Fliesenstellwänden hat schon daran gedacht auszubilden. Wolfgang Ziehm hat keine Mühe, ihn zu überzeugen, informiert über die infrage kommenden Ausbildungsberufe und Förderprogramme. Prognose: zwei Ausbildungsplätze gewonnen.
Seit Juli 1995 sind 157 Ausbildungsentwickler im Auftrag des Bundesbildungsministeriums in den neuen Bundesländern auf der Suche nach Lehrstellen unterwegs. Immerhin, rund 77.500 Betriebe hatten sie bereits bis August 1997 besucht, fast 33.000 neue Ausbildungsplätze geschaffen.
12.00 Uhr. In der Einfamilienhausidylle einige Kilometer entfernt scheint die Zeit stehengeblieben. Mittelstandsvillen im grauen Kleid der fünfziger Jahre, ein zerschlagenes Auto am Straßenrand. „Schauen Sie mal: Auto-Müller“, Herr Ziehm tritt in die Bremsen. „Der braucht doch bestimmt kaufmännisches Personal. Da gehen wir mal rein.“ Manchmal lohnt es sich, mal aufs blaue nachzufragen. Diesmal nicht. Eine kleine Werkstatt am Rande des Existenzminimums. Der alte Herr Müller ist soeben gestorben. Sein Kompagnon muß sich erst mal neu orientieren. Vielleicht im Frühjahr, wenn die Firma übern Berg ist. Herrn Ziehm wirft das noch lange nicht aus der Bahn. „Die Hauptsache ist, die Firmen zu impfen: Letzlich kann jeder ausbilden, und das ist auch in eurem Interesse.“ Bei rund jedem dritten funktioniert's. Ein mühsames Geschäft.
14 Uhr. Köpenick Zentrum. Durch den Schlamm auf dem Hof fahren die Betonmischlaster. „Tach, ich komme von der IHK und suche Ausbildungsplätze“, sagt Ziehm. Der Chef des MDB Mörteldienstes, etwas übelgelaunt ob des Überraschungsbesuchs, würde schon ausbilden, zum Verfahrenstechniker oder in der Buchhaltung. „Aber wir wissen nicht, ob wir das hinkriegen.“ Ziehm erzählt von Möglichkeiten eines Ausbildungsverbundes, zum Beispiel mit dem Nachbarunternehmen, erläutert Berufsbilder und Ausbildungswege. Zum Schluß ist er sich sicher: „Das klappt schon.“
Wolfgang Ziehm zieht noch durch einige Unternehmen an diesem Tag. Fazit: Fünf feste Zusagen, zwei in Aussicht. Anschließend geht es in die Kammer zur Nachbereitung. Unterlagen müssen verschickt, die Ausbildungsberater, die Gutachten erstellen, informiert werden. Rund 5.000 Betriebe haben die fünf Berliner Lehrstellenentwickler besucht, ein paar hundert Ausbildungsplätze sind dabei herumgekommen. Ein Allheilmittel gegen die Lehrstellenmisere ist das Programm zwar nicht. Doch Ziehm ist optimistisch: „Wenn es weiterläuft, können wir sicher noch viele Ausbildungsplätze gewinnen“.
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