■ Stichlingsfang und Tannenbaumraub: Kurt Scheel erinnert sich an seine Kindheit in Altenwerder: Eine grüne Insel mit goldenem Rand
Das Besondere an einer Insel ist ihre Inselhaftigkeit. Alles so schön übersichtlich! Da ist die Insel – nennen wir sie Altenwerder –, und drumherum ist Das Andere, aber das geht uns erst einmal nichts an. Wir sind in der Kindheit ja eher klein und haben Mühe, die Insel zu kapieren, selbst wenn sie so winzig ist wie Altenwerder: ein an den Ecken aufgeweichtes Rechteck von zwei Kilometer Länge und einem Kilometer Breite, ringsherum brav von einem Deich geschützt, in der Mitte vom Querweg durchzogen. Obstplantagen, Gemüsegärten und Weiden mit Kühen in Halbtrauer. Viele kleinere und größere Gräben, deren Schlick bei Ebbe betörend dünstet, bei Flut führen sie das klarste Wasser, leicht gekräuselt, daß man sofort ein Fisch sein möchte.
Und statt eines langweiligen Meeres gibt es im Osten den Köhlbrand, im Süden die Süderelbe, im Norden die Dove Elbe. Drumherum feindliches Ausland, ich sage nur: Moorburg und Finkenwerder. Eine kleine Festung in Indianerland, Fort Apache bei Hamburg, sozusagen.
Für einen kleinen Buttje ist das ein Paradies. Altenwerder ist ein Traum, und zum Glück kann ich dorthin nie zurückkehren, selbst wenn ich wollte. Das Schicksal in Gestalt der Hafenerweiterung und Senator Kerns hat alles zerstört, und so bleibt nur die Erinnerung, wie es vernünftigerweise ja auch sein soll.
Wir wohnten am Kirchweg, bei Sankt Gertrud – die Kirche ist so ziemlich das einzige, was noch übrig ist –, in der Mitte der Insel. Die meisten Häuser aber standen entlang des Deichs. Süderdeich, Westerdeich, Elbdeich, Dreikatendeich, da war auch die Anlegestelle für das Schiff nach Hamburg, Sankt-Pauli-Landungsbrücken. Das war aber dann schon eine gefährliche Expedition, und erschöpft vom Getriebe der Großstadt (Moloch) kehrte man, neu eingekleidet bei C & A, abends nach Hause zurück.
In Altenwerder war man in Sicherheit. Alles wohlgeordnet: Die Jahreszeiten gaben sich Mühe – der Frühling war knospend und blühend, die Apfelbäume in weißem Glanz; der Sommer lang und heiß; der Herbst stürmisch und fruchtbeladen; der Winter knackte vor Kälte, wie es sich gehört. Weihnachten, Ostern, Pfingsten, dann eine Durststrecke, die nur von Erntedankfest, Bußtag („Ein feste Burg ist unser Gott“) und Volkstrauertag aufgeheitert wurde. Sonntags Kindergottesdienst, um 13 Uhr dann „Große Kindervorstellung“ im Kino der Eltern. Das bißchen Schule riß man auf einer Arschbacke ab. Und dann hinaus!
Mit selbstgebastelten Angeln ging's zum Quergraben, Stippler (Stichlinge) fangen; Köder waren Regenwürmer, die man vorzüglich aus alten Kuhfladen bezog. Die Stippler zerfielen in die dicken Weibchen und die am Bauch rotschillernden Männchen, die „Doktors“ genannt wurden. Für einen Doktor bekam man zwei Dicke beim Tauschen – wir waren ja noch Kinder, hatten von Simone de Beauvoir und Gender studies praktisch keine Ahnung. Und insofern mag dieser beklemmende Machismus verzeihlich sein. Im übrigen wurden alle Stippler, unabhängig vom Geschlecht, in heißes Wasser geworfen und ihrer Bestimmung als Hühnerfutter zugeführt.
Auf der Süderelbe konnte man Boot fahren und, wenn man's geschickt anstellte, Aalreusen plündern. Apropos kriminelle Energie: Im Herbst wurden in großem Stil Äpfel, Birnen und Pflaumen geklaut. Einmal bin ich erwischt und vom Bauern erheblich verbimst worden. Das trug man cool, der Dorfpolizist Willy Wiesel, er hieß wirklich so, wurde weder von Bauern- noch von Elternseite mit solchen Bagatellen behelligt. Wir brachen auch gerne in Gemüsegärten ein, Gurken, Erbsen, Erd- und Stachelbeeren, alles stieß auf reges Interesse und wurde alsbald verzehrt.
Richtig gefährlich war es nach Weihnachten, da rottete sich die eine Hälfte der Dorfjugend gegen die andere zusammen. Zwei brandschatzende Horden auf der Jagd nach Tannenbäumen, die dann im Januar festlich verbrannt wurden. Wer die meisten hatte, war König. Es war also eine Frage der Ehre, und da fließt bekanntlich gerne Blut: Wir Kinder und Halbwüchsigen gingen mit Dachlatten aufeinander los, man brach in abgeschlossene Schuppen ein, wenn man dort ein Tannenbaumlager der feindlichen Partei vermutete.
Wenn aber Moorburger in großer Zahl (typisch!) anrückten, hielten die Altenwerder (es heißt eben nicht: Altenwerderer) zusammen und schlugen die feindlichen Tschetniks glorreich in die Flucht, ausnahmslos, das erinnere ich genau.
Die Jugendgewalt war erheblich, und die Täter wurden immer jünger, schon damals! Aber im Ernst: Gewalt und Bruder Hein waren unsere ständigen Begleiter, kaum ein Jahr verging, in dem nicht einer der Kumpane – es waren immer Jungs – beim Baden ertrank, beim Schlittschuhlaufen auf der Süderelbe einbrach, und Pastor Kunig mußte wieder einen kleinen Sarg zum Friedhof begleiten.
Hein Paster also vorneweg, mit Halskrause und Barett, der Wind – immer wehte der Wind – blähte seinen Talar, und er sah stattlich und furchterregend aus. Der Sarg war in einem gläsernen, mit Troddeln verzierten Wagen; die Pferde trugen schwarze Schabracken, Kutscher war der Suffkopp Hinnerk, der einen „eischen Daumen“ hatte und Warzen besprechen konnte. Dann die Honoratioren – Fischer und Bauern – mit Zylinder und im Bratenrock (wir sind in den fünfziger Jahren), alles sah recht würdig und gesittet aus, nur die Nachhut des Trauerzugs erzählte schon auf dem Hinweg Döntjes und lachte sich schief. Nach der Beerdigung war man dann sehr fidel, der Leichenschmaus in Altenwerder soll regelmäßig orgiastischer als jede Hochzeit verlaufen sein.
Es wurde viel gestorben. Schwermütige Bauern auf dem Altenteil erhängten oder erschossen sich, Fischer blieben „draußen“ (Nordsee ist Mordsee) – Kühe und Schweine und Gänse wurden sowieso alle naslang geschlachtet: Mein Vater hackt einem Huhn auf dem Hauklotz den Kopf ab, läßt es vor Schreck los, und es flattert durch den Schuppen. Oder als ich einmal eine Bisamratte mit dem Spaten zweigeteilt habe. Oder der arme Maulwurf, dem ich mit der Plattschaufel eins auf den Dötz gab. Leben und Tod waren in Altenwerder also noch, wie es unsere empfindsamen Kulturkritiker fordern, hübsch verbunden, ein ewiges Stirb und Werde. Gräßlich!
Schön war das Wasser: angeln, segeln, rudern, baden, Schlittschuh laufen. Schön war der Wind: Drachen steigen lassen, sich einfach durchpüstern lassen, mit geschlossenen Augen. Schön war die Erde (Scholle), wenn sie so brünstig duftete und uns ihre Gaben darbot. (Weniger schön war, wenn ich den elterlichen Gemüsegarten, im Frühjahr und im Herbst, umgraben mußte, und der Marschboden war so schwer und lehmig, daß mir vor Anstrengung und Wut die Tränen kamen.) Und das Viehzeug, die Kühe und Pferde, auf denen man gelegentlich reiten durfte. Schön war das Feuer, wenn man das trockene Gras abbrannte – einmal, in meiner Zündelphase, habe ich versehentlich ein ganzes Kornfeld abgefackelt, da ging mir der Arsch auf Grundeis (unpassendes Bild!), aber die Angstlust erinnere ich bis heute als ungeheuer.
Das Besondere an einer Kindheit in Altenwerder, will ich damit sagen, war das Elementare. 1962 haben die Elemente etwas übertrieben und sich zur Großen Sturmflut zusammengerottet, dreihundert Tote im Hamburger Raum, unsere grüne Insel aber war nur abgesoffen und mit Sachschaden davongekommen.
Die Natur, die Elemente: Das ist das Altenwerdersche für mich. Natürlich interessiert sich das Kind nicht für „die Natur“. Aber wenn die Störche auf den Wiesen herumstolzierten; wenn die Kraniche über die Insel zogen; wenn wir die ersten Schachbrettblumen fanden; wenn wir uns prügelten; wenn wir den wütenden Bauern entkamen – das ist unser Glück, und ich erinnere es genau.
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