Durch den Tunnel in die Pleite

Städte und Dörfer, die an ICE-Strecken in den neuen Bundesländern liegen, werden durch die „Verkehrprojekte Deutsche Einheit“ geteilt. Und müssen auch noch zahlen. Jetzt klagt eine Gemeinde in Sachsen-Anhalt  ■ Aus Burgkemnitz Jens Rübsam

Wolfgang Riemichen ist bester Laune. Gestern war eine Rentnerveranstaltung im Landgasthof. Fröhlich war's. Bis halb zehn hat er mitgefeiert. Heute hat die Kassiererin des Fördervereins „Barockkirche e.V.“ Geburtstag. Da muß er hin, er braucht noch Blumen. Morgen ist Sonntag, trotzdem hat er für elf Uhr einen Termin ausgemacht mit Interessenten, die im Neubaugebiet bauen wollen. „Man muß es den Leuten schon recht machen.“

Die gute Laune von Wolfgang Riemichen, Bürgermeister von Burgkemnitz, ist dieser Tage nicht selbstverständlich. Die Deutsche Bahn AG hat die kleine Gemeinde in Sachsen-Anhalt verklagt. Streitwert: mehr als fünf Millionen Mark. Es geht um eine Eisenbahnunterführung, die gebaut werden soll. Gesamtkosten: 15,2 Millionen Mark. Laut Eisenbahnkreuzungsgesetz muß ein Drittel die Deutsche Bahn AG zahlen, ein Drittel der Bund und ein Drittel die Gemeinde Burgkemnitz. Die wehrt sich und hat als erste in Sachsen- Anhalt die Kreuzungsvereinbarung nicht unterschrieben.

Von einem „Musterprozeß“ spricht der Städte- und Gemeindebund in Magdeburg. Von einem „Extremfall“ reden die Leute im Dorf und haben schon einmal die Pro-Kopf-Belastung ausgerechnet: 730 Einwohner hat Burgkemnitz, macht rund 7.500 Mark für jeden – für einen Tunnel, den die Deutsche Bahn AG braucht, um ihr Vorzeigeprojekt „Deutsche Einheit“ realisieren zu können. Im Jahr 2000 sollen auf der ICE- Strecke Halle/Leipzig–Berlin die Züge mit 200 Stundenkilometer durch Burgkemnitz rauschen. Da entspricht zwangsläufig der kleine Bahnübergang mit den zwei Halbschranken, der Oberdorf und Unterdorf säuberlich trennt, nicht mehr den Sicherheitsvorschriften. Ein neuer muß her, ein Tunnel und obendrein eine neue Straße als Anbindung. Alles zum Ärger der Burgkemnitzer. Die sehen nicht ein, daß sie eine weitere Teilung ihres Dorfes mitfinanzieren sollen – der Tunnel wird nicht da gebaut, wo heute der Bahnübergang ist, sondern gut 400 Meter versetzt, das ergibt, wie sie sagen, einen „schönen Umweg“.

Erst recht wollen sie nicht einsehen, wieso sie für ein Privatunternehmen, wie es die Deutsche Bahn AG eines ist, geradestehen sollen. „Wenn ich mir eine Heizung im Haus einbaue, bezahlt mir das auch keiner“, schimpft Riemichen. Michael Baufeld von der Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit winkt ab: „Wir betreiben Infrastruktur des Bundes. Wir wenden Bundesgesetz an. Da spielt es keine Rolle, ob eine Gemeinde finanziell schlecht oder gut dasteht.“ Burgkemnitz steht eher schlecht da. „Das wenige Geld“, sagt der Bürgermeister, „brauchen wir für Wichtigeres.“

Lässig sitzt Wolfgang Riemichen hinterm Lenkrad seines roten Toyota, glaubt noch an Gerechtigkeit in der Welt und Moral in der Politik und gibt Gas zur Rundfahrt durch den Ort. Vorbei am Sportplatz, der ein Tennisplatz werden soll. Vorbei an der Kindertagesstätte, die es nur noch gibt, weil Kinder aus den umliegenden Dörfern hierher kommen. Vorbei am Baumlehrgarten, den man nur dank Fördermitteln anlegen konnte. Vorbei am alten Feuerwehrhaus, das sich jetzt die Freunde des Heimat- und Naturvereins umbauen. Die Gemeinde konnte nur 3.000 Mark geben. Vorbei am neuen Feuerwehrgerätehaus, das 150.000 Mark verschlang. Über den Bahnübergang ins Unterdorf, auf die Ernst-Thälmann-Straße. Die wird demnächst aufgerissen. Eine Million Mark kostet das. 200.000 Mark muß die Gemeinde aufbringen. „Wir haben einen Kredit aufgenommen“, sagt Riemichen. Es war nicht der erste. Dann links rein in die Thomas-Müntzer- Straße, deren Ausbau über das Dorferneuerungsprogramm lief. Hin zum Neubaugebiet, zwölf Hektar, Riemichens Stolz. 120 Häuser mit verschieden großen Wohnungen sollen hier entstehen, kleinere Gewerbe sollen folgen. Es gibt ja nichts hier in Burgkemnitz. Und es wird gar nichts mehr geben, sollte der Ort für die Eisenbahnunterführung zur Kasse gebeten werden: „Da können wir Konkurs anmelden“, sagt Riemichen, bremst seinen Toyota ab, starrt einen Augenblick durch die Heckscheibe, grient verschmitzt und sagt: „Aber wir kämpfen jetzt mit Rückendeckung.“

Das Innenministerium Sachsen- Anhalt hat zugesichert, zwei Drittel der Kosten für den bevorstehenden Prozeß zu übernehmen. Der Städte- und Gemeindebund will mit 10.000 Mark aushelfen. Wolfgang Riemichen trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Mittlerweile ist Burgkemnitz nicht mehr die einzige Kommune, die sich der Zahlung verweigert. Zwölf weitere an den ICE-Ausbaustrecken Halle/Leipzig–Berlin und Hannover–Berlin sind von der Deutschen Bahn AG verklagt worden, so auch die brandenburgische Stadt Rathenow. Die weiß nicht, wie sie die rund sieben Millionen Mark für einen bereits fertiggestellten Tunnel aufbringen soll. Im Rathaus setzt man auf den Prozeß. Sollte der verloren werden, „müssen wir wohl zwangsverwaltet werden“, tönt es leise aus den Amtsstuben.

Anfang Mai soll noch einmal im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat über das Eisenbahnkreuzungsgesetz verhandelt werden. Allerdings: Es wird nicht um Kommunen wie Burgkemnitz und Rathenow gehen, die an Ausbaustrecken liegen und aufgrund der höheren Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometer einen vorschriftsmäßigen Bahnübergang vorweisen müssen, sondern um Kommunen, die ihre Brücken modernisieren müssen. Das sind vor allem ostdeutsche Ortschaften, die mit Altlasten aus Reichsbahnzeiten zu kämpfen haben. Die Kosten sollen sich, so der Änderungsantrag, zukünftig zur Hälfte Bund und Bahn teilen. Der Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt hätte sich eine solche Lösung für alle vom Eisenbahnkreuzungsgesetz betroffenen Kommunen gewünscht. Hunderte sind es in den neuen Ländern. Deren Bürgermeister protestieren derweil.

Norbert Krieg beispielsweise, Bürgermeister von Dornbock (Sachsen-Anhalt). Er hat einen per Zeitungsannoncen einen öffentlichen Hilferuf ausgesandt. 367.946,33 Mark soll seine Gemeinde für eine neue Schrankenanlage zahlen. „Das ist der Ruin für uns.“ Der Haushalt für 1998 beläuft sich auf 794.300 Mark. Davon sind allein 226.000 Mark Umlagen an Landkreis und andere Zweckverbände zu leisten, 160.000 Mark sind für die Dorferneuerung eingeplant. Bleiben 408.200 Mark. Würde die Gemeinde die von der Bahn geforderte Summe zahlen, bliebe ein Rest von 40.2253,67 Mark. „Dann muß der Gemeindearbeiter entlassen werden. Dann müssen die Kindergartenkinder und Schüler zu Hause bleiben, weil wir unseren Anteil an die Träger nicht mehr zahlen können“, sagt Krieg. Die Dornbocker Gemeinderäte wollten schon einen Kuckuck an die Ortsschilder kleben mit der Aufschrift: „Wir sind pleite.“

Die Burgkemnitzer Gemeinderäte wollen, wenn sie zahlen müssen, geschlossen zurücktreten und anderen die Schuldenverwaltung überlassen. Das sagt jedenfalls Bodo Reinhardt, Gemeinderat, Vorsitzender des Heimat- und Naturvereins und nach Bürgermeister Riemichen zweitmächtigster Mann im Dorf. Reinhardt sitzt im Landgasthof, blättert in seiner Chronik und entdeckt erst einmal eine Ungenauigkeit. Hier ist der 1.August 1859 als der Tag notiert, an dem erstmals zwei Personenzüge, ein gemischter Zug und ein Güterzug durch Burgkemnitz fuhren. Da, auf einer anderen Seite, der 3.August 1859. Was ist nun richtig? Reinhardt, Lehrer für Biologie und Sport, liebt keine Ungereimtheiten. Das war schon immer so. Als es zu DDR-Zeiten Chemie „vom Himmel pißte“ – Bitterfeld und Wolfen sind ganz in der Nähe – ist er mit der Kamera losgezogen: Betriebe fotografieren und Felder und einmal auch ein Agrarflugzeug. Der Pilot landete, stieg aus und zog den Film aus der Kamera. „Querulant“ nannte man Bodo Reinhardt und „grüne Hatz“ seine Sorge um die Umwelt. Beides ist der durchtrainierte Mann mit der leisen Stimme noch heute. Er hat das Dorf gegen die Bahn und die „Deutsche Einheit“ eingeschworen. „Müssen wir zahlen, sind wir auf 30 Jahre hinaus unfähig, etwas im Ort zu bewegen.“

Viel hat Reinhardt selbst in Burgkemnitz bewegt. Er läßt von der Chronik und fragt spitzbübsch: „Wissen Sie, wie der erste Gemeinderatsbeschluß nach der Wende lautete?“ – Renaturierung des oberen Schmerzbachs! Knapp 300.000 Mark wurden ausgegeben für Ökologie! Bei den Einwohnern herrschte Skepsis, kannten doch viele hier im Chemiedreieck nicht einmal das Wort. Heute hat Burgkemnitz den größten zusammengehörenden Orchideenbestand des Landkreises Bitterfeld, hat wieder Eisvögel und Biber, einen Naturlehrpfad, 3,5 Kilometer und ein „ökologisches Konzept“: Dazu gehört, die Findlingsmauer am Schloß zu sanieren, im Schloßpark einen englischen Garten anzulegen, Lehr- und Wanderwege zu betreuen und Gewässer. Bodo Reinhardt hat teure Träume.

Er zieht sich an, geht hinüber zum alten Feuerwehrgerätehaus, die Männer vom Verein leisten Subbotnik, die Frauen haben Kröpfchen und Kaffee gebracht. Es riecht nach Schweiß und nach Bier. Von der Wand mahnt ein Spruch: „Heimat hat man nicht, man erwirbt sie durch Mitarbeit.“ Reinhardt hat ihn anbringen lassen. Irgendwie erinnert er an den Streit der Burgkemnitzer um die Eisenbahnunterführung. Sie müssen kämpfen – vor Gericht.