: Das Stück Zucker im Tee
Jenseits natürlicher Gemeinschaften: Im Zeitalter des Postkolonialismus greifen alte Identitätsmodelle nicht mehr. Intellektuelle der „Dritten Welt“ lenken den Blick auf kulturelle Repräsentationen. „Identität“ ist da ohne Bezug auf die Anderen nicht denkbar ■ Von Mark Terkessidis
Gern und viel spricht man in Deutschland über Identität. Was man allerdings darunter zu verstehen hat, wird nur äußerst selten diskutiert. Im Grunde glaubt man durchweg immer noch, Identität habe etwas mit einer Gemeinschaft von Menschen zu tun, die ungefähr gleich aussehen, auf dieselbe Weise fühlen und sich gegenseitig als gleich wahrnehmen. Irgendwo in all diesen Menschen, so die unausgesprochene Voraussetzung, verbirgt sich eine ursprüngliche kulturelle Essenz, die den einzelnen quasi natürlich mit seinesgleichen verbindet. Daher gilt Identität auch als etwas zutiefst Notwendiges und Wertvolles, das man unbedingt zum Leben braucht und das man gegen allzuviel fremde Einflüsse verteidigen muß.
Es ist heute nur noch wenigen bewußt, daß ein solches Verständnis von Identität auch ein Überbleibsel aus den Kämpfen der „Dritten Welt“ in den sechziger und siebziger Jahren ist. Denn die gerade unabhängig gewordenen Kolonien etwa in Afrika feierten damals unter dem Beifall progressiver Kreise im Westen die Wiederentdeckung ihrer „afrikanischen Identität“. Die unterdrückten afrikanischen Traditionen sollten dabei als „Kitt“ für den Zusammenhalt der Bürger in den einzelnen Nationen dienen und gleichzeitig die Solidarität dieser Nationen in ihrem gemeinsamen Kampf gegen den fortdauernden wirtschaftlichen und kulturellen „Imperialismus“ stärken.
Nun erwies sich die „afrikanische Identität“ jedoch als janusköpfige Schimäre. Tatsächlich gab es überhaupt keine einheitliche Tradition, zu der man hätte „zurückkehren“ können. Als Mittel zur Befreiung von den Europäern gedacht, führte die Feier des afrikanischen Ursprungs absurderweise zu den europäischen Klischees zurück. Denn Afrika war eine Erfindung der Europäer – bevor sie den Kontinent betraten, gab es keine Vorstellung von der Einheit Afrikas oder davon, was es bedeutete, „schwarz“ zu sein. Insofern haben, wie der in Ghana geborene Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem vieldiskutierten Buch „In my father's house“ schrieb, im Grunde erst die afrikanischen Nationalisten den westlichen Bildern von Afrika tatsächlich Realität eingehaucht.
Daß man bei der Rückkehr zum eigenen authentischen Selbst ausgerechnet die Bilder der Anderen vorfindet, läßt sich mit herkömmlichen Identitätsvorstellungen wohl kaum vereinbaren. In einer hochinteressanten Debatte zum Thema „Postkolonialismus“ wird daher momentan vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten über die Komplexität und Ambivalenz von Identitäten noch einmal neu nachgedacht. Dabei stammen die Protagonisten dieser Debatte wiederum aus der „Dritten Welt“: Das Spektrum reicht von Schriftstellern wie Wole Soyinka und Derek Walcott zu Kulturtheoretikern wie Stuart Hall, Edward Said, Gayatri Spivak oder Homi Bhabha. Diese Intellektuellen befinden sich selbst in einer Situation, in der die bekannten Identitätsbegriffe längst nicht mehr greifen. Denn entweder sind sie aus ehemaligen Kolonien in die Metropole eingewandert, oder sie halten sich auf der Flucht vor undemokratischen Regierungen dort im Exil auf. Da sie auf vielfältige Weise ein „Leben im Zwischenreich“ (Salman Rushdie) führen, halten sie sich auch nicht mehr unmittelbar für die Vertreter ihrer natürlichen oder „objektiv“ unterdrückten Gemeinschaften. Sie haben eine neue Perspektive angeregt, die sich auf die bis dato sträflich vernachlässigte Macht der Bilder konzentriert – also nicht mehr darauf, wie eine Gemeinschaft ist, sondern wie sie repräsentiert, wie sie dargestellt und vertreten wird.
Männchen machen im Namen der Krone
Schon an den paradoxen Auswirkungen der afrikanischen Selbstfindung zeigt sich, daß Repräsentationen offenbar mehr produktive Kraft besitzen als bisher angenommen. Dabei scheinen sich die Europäer über die Macht der Abbildungen schon bei ihrer allerersten Begegnung mit den Fremden in Übersee im klaren gewesen zu sein. Als Kolumbus bei seiner ersten Reise nach endloser Fahrt endlich Land erreicht und auf andere Menschen trifft, wirkt er mitnichten überrascht oder ängstlich. Er ist, wie Stephen Greenblatt in seinem gerade als Taschenbuch erschienenen Werk über die frühen „Entdeckungs“-Reisen („Wunderbare Besitztümer“) ausführlich beschreibt, vollauf mit Repräsentieren beschäftigt. Sogleich setzt er mit einem bewaffneten Boot über, entrollt die königliche Flagge und verliest den „Eingeborenen“ – selbstverständlich ohne Dolmetscher – eine Erklärung und nimmt damit im Namen der Krone Besitz von den Inseln.
„Man muß sich diese phantastische Szene ausmalen“, betont Robert Weimann in seiner Einleitung zu dem neuen Sammelband „Ränder der Moderne“, „wie sich da ein Häuflein Spanier im gleißenden Sand einer tropischen Insel zusammentut, um in der Verlorenheit jenseits des unbefahrenen Weltmeeres symbolisch Männchen zu machen...“ Tatsächlich ersetzt ein leeres Zeremoniell von vornherein jede mögliche kulturelle Begegnung. In diesem symbolischen Akt erweist sich jedoch die Macht der Repräsentation: Denn Kolumbus vertritt die sprachlosen Anderen in einem Text. Gleich danach gibt er den Inseln einen neuen Namen. Das Bewußtsein der anderen Menschen interessiert Kolumbus nicht, und er sieht auch keine Notwendigkeit, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Er verdammt sie zum Schweigen und macht sich schließlich allein sein eigenes Bild von den Fremden.
Wie man weiß, ist dieses Bild von Anfang an nicht besonders freundlich – schnell gelten die Anderen als schamlos, faul, grausam und unzivilisiert. Mit solchen Bildern der Anderen legitimierten die Europäer die Praxis der Ausbeutung vor ihren eigenen moralischen Ansprüchen. So konnten sie die Fremden hemmungslos ausplündern und sich gleichzeitig Denkmäler als Erzieher und Befreier errichten. Durch die Tätigkeit der Repräsentation verquickten sie allerdings ihre eigene Identität unwiderruflich mit jener der Anderen: Die Europäer wurden erst „weiß“, weil sie die Fremden zu „Schwarzen“ oder „Eingeborenen“ machten; sie konnten sich nur als rein, dynamisch und fleißig wahrnehmen, weil sie die Anderen als schmutzig, langsam und faul betrachteten.
Weiße als Figürchen zur spirituellen Heilung
So ist die Kultur Europas nicht etwa eine eigenständige, abgeschlossene Einheit: Ohne die Beziehung zu ihren „wunderbaren Besitztümern“ würde sie in dieser Form überhaupt nicht existieren. Stuart Hall hat dies einmal sehr schön am Beispiel des Teetrinkens in Großbritannien illustriert. „Was wissen denn die Menschen überall auf der Welt schon von den Engländern“, fragte er, „außer daß sie ohne eine Tasse Tee den Tag nicht überstehen können?“ Allerdings wird der Tee in dieser Tasse, der symbolisch für die englische Identität steht, eben nirgendwo in England angebaut, sondern nur in Sri Lanka oder Indien. Daran zeigt sich, so Hall, daß es keine englische Geschichte gibt „ohne diese andere Geschichte“ in Übersee.
Seit die Europäer ihre Eroberungsreise über den gesamten Globus angetreten haben, lassen sich das Eigene und das Andere nirgendwo auf der Welt noch deutlich auseinanderhalten. Dies gilt, wie man am Problem der „afrikanischen Identität“ sehen konnte, nicht nur für die Europäer. Anderssein bedeutet heute, wie Michael Taussig in seinem kürzlich erschienenen Buch „Mimesis und Alterität“ meint, „in jeder Hinsicht eine Beziehung, nicht ein in sich geschlossenes Ding“. Tatsächlich werden weiße Beobachter heute selbst dann, wenn sie besonders ursprüngliche Traditionen zu beobachten glauben, ironischerweise oft mit sich selbst konfrontiert. Das Volk der Cuna, das in Panama lebt und als äußerst traditionalistisch gilt, verwendet, wie Taussig ausführlich schildert, etwa kleine Figürchen, die Weiße darstellen sollen, als Mittel zur spirituellen Heilung. Darüber hinaus sind sich die Cuna nur zu gut über die nostalgische Liebe der Weißen zu den ursprünglichen Sitten von „edlen Wilden“ im klaren. Daher spielen sie häufig ganz bewußt „Indianer“, um die Weißen politisch zu manipulieren. Mehr als einmal konnten sie als besonders indianische „Indianer“ die US-Amerikaner dafür gewinnen, ihnen bei Konflikten mit dem panamaischen Staat zur Seite zu stehen.
Wenn man Identitäten nicht mehr als abgeschlossene Einheiten begreift, dann muß man schließlich auch über die heutigen Folgen der Migration noch einmal neu nachdenken. In Großbritannien beispielsweise, wo die Einwanderer aus ehemaligen Kolonien stammen, setzte sich mit der Einwanderung die komplizierte Geschichte der Verstrickungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen fort. Stuart Hall, der in den fünfziger Jahren aus Jamaica nach England kam, schreibt daher ironisch über seine Migrationserfahrungen: „Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse.“
Macht, Kannibalismus und Konflikt
Auf die eine oder andere Weise existieren solche Verstrickungen zwischen Einheimischen und Migranten in allen Einwanderungsländern. Es ist keineswegs so, wie in Deutschland noch oft angenommen, als würden die Migranten die Kultur ihrer Heimat einfach eins zu eins in ihr jeweiliges Einwanderungsland verpflanzen und danach ohne Brechung eine einheitliche Gemeinschaft bleiben. Homi Bhabha hat darauf hingewiesen, daß es nicht darauf ankommt, sich fertige Identitäten unabhängig voneinander anzusehen, sondern immer den gesamten Prozeß zu beobachten, in dem kulturelle Unterschiedlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. In einem Aufsatz für einen Sammelband postkolonialer Schriften mit den Titel „Hybride Kulturen“ betont Bhabha, daß Identität ein „komplexes, fortlaufendes Verhandeln“ sei, dessen Ergebnis immer „hybrid“, also vermischt sei.
Unter diesem Aspekt kann man gerade auf besonders traditionell wirkende Kulturformen in Einwanderungsgesellschaften einen neuen Blick werfen. Wenn in Deutschland etwa Musliminnen ihre Unterschiedlichkeit mit Kopftüchern markieren, so ist das kein Hervorbrechen einer archaischen Tradition, sondern ein strategischer Einsatz im Spiel der Repräsentationen, der nur in der spezifisch deutschen Situation Sinn macht. Erst die Vermischung von kulturellen Versatzstücken aus der Kultur des sogenannten „Heimatlandes“ mit den Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung verleihen dem Kopftuch eine Bedeutung, die es etwa in der Türkei überhaupt nicht besitzt. Kulturell „zwischen zwei Stühlen“ zu sitzen wird hierzulande bei Migranten oft als krankmachendes Problem betrachtet. Die Identitätsmodelle aus der „Postkolonialismus“- Diskussion verdeutlichen dagegen, daß Identitäten grundsätzlich in „Zwischenräumen“ entstehen. In der „Hybridität“ von Identitäten verbirgt sich allerdings immer eine lange Geschichte von Kannibalismus, ungleicher Macht, Schmerz und Konflikt. Ganz sicher ist „Hybridität“ kein Ausdruck für das neue harmonische Zusammenleben im globalisierten Status quo, wie etwa Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius, Herausgeber von „Hybride Kulturen“, zu glauben scheinen.
Die neue Vorstellung von Identität zwingt vielmehr dazu, über neue politische Projekte nachzudenken, die nicht mehr auf der unhinterfragten Existenz natürlicher oder „objektiver“ Gemeinschaften basieren. Der Ausgangspunkt solcher Projekte ist nicht mehr entweder das eine oder das andere, sondern unausweichlich das Eine-im- Anderen, eine Welt der Widersprüche.
Stephen Greenblatt: „Wunderbare Besitztümer – Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker“. Wagenbach Verlag, Berlin, 286 S., 24,80 DM
Robert Weimann (Hg.): „Ränder der Moderne – Repräsentation und Alterität im (post-)kolonialen Diskurs“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 356 S., 24,80 DM
Michael Taussig: „Mimesis und Alterität – Eine eigenwillige Geschichte der Sinne“. Europäische Verlagsanstalt, 286 S., 48 DM
E. Bronfen, B. Marius & T. Steffen (Hg.): „Hybride Kulturen – Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte“. Stauffenburg Verlag, 296 S., 48DM (mit Texten von Jameson, Said, Bhabha, Hall)
P. Weibel und S. Zizek (Hg.): „Inklusion Exklusion – Probleme des Postkolonialismus u.d. glob. Migration“. Passagen Verlag, Wien, 200 S., 29,80 DM
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