: Betr.: Interview mit Wei Jingsheng
Wei Jingsheng veröffentlichte 1978 die berühmte Wandzeitung zur 5. Modernisierung (= Demokratie) und wurde im Jahr darauf zu 15 Jahren Haft verurteilt. 1993 freigelassen, wurde er wegen seiner unbeugsam demokratischen Haltung 1994 erneut zu 14 Jahren verurteilt und im November 1997 in die USA abgeschoben. Er hielt sich als Gast der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin auf, wo auch das folgende Interview entstand.
taz: Herr Wei Jingsheng, ist es Ihnen schon möglich, ein erstes Fazit Ihres Lebens im Westen zu ziehen? Was hat Sie am meisten gefreut, was am meisten schockiert?
Wei Jingsheng: Ich hatte nicht erwartet, auf die Sympathie vieler Menschen zu stoßen, die weder etwas von China noch von mir gewußt hatten, zum Beispiel in dem Krankenhaus, in dem ich nach meiner Ankunft in den USA behandelt wurde. Auch in den chinesischen Gemeinden der USA und Kanadas bin ich sehr herzlich aufgenommen worden. Niemand hat versucht, mich vor irgendwelche Karren zu spannen. Ob ich einen Kulturschock erlitt? Ich hatte viel gelesen über den Westen und ein ziemlich klares Bild im Kopf. Wirklich geschockt hat mich, daß manche westliche Staatsmänner mit mir in einem Ton sprachen, als wären sie Kader der KP Chinas.
Sie kritisieren den Kurs vieler westlicher Regierungen, auch der deutschen, gegenüber der chinesischen Demokratiebewegung...
Als ich im Gefängnis war, versuchte mich einer meiner Wärter, übrigens ein keineswegs ungebildeter Mann, davon zu überzeugen, daß all meine Anstrengungen sinnlos seien. Er sagte: „Glaub nicht, daß der Westen dich unterstützt. Die Burschen wollen nur Geschäfte machen.“ Ich hielt das damals für eine Propagandafloskel der Kommunisten. Heute weiß ich, daß viele westliche Regierungen in den letzten Jahren einen Kurswechsel zugunsten des kommunistischen Regimes vollzogen haben. Ich halte das für gefährlich, auch für die westlichen Staaten.
Die meisten westlichen Regierungen setzen auf Stabilität unter der Führung einer sich allmählich wandelnden KP Chinas. Diese Staatsleute fürchten das Chaos.
Niemand will das Chaos, am wenigsten das chinesische Volk. Aber man muß sehen, daß die chinesischen Machthaber selbst die Hauptquelle des Chaos darstellen. Bedenken Sie, daß in der Landwirtschaft zig Millionen Menschen „freigesetzt“ werden, daß es in den Städten über zehn Millionen Arbeitslose gibt, für deren Unterhalt bislang nicht die geringste Vorsorge getroffen ist. Die Menschen in China beginnen das Vertrauen in einen graduellen Prozeß Richtung Demokratie zu verlieren. Sabotageakte in der Produktion häufen sich, erstmals beginnt man über die Notwendigkeit bewaffneter Aktionen zu diskutieren. China gleicht allmählich einem Pulverfaß. Für diese Entwicklung, die eben auch für den Weltfrieden und damit die westlichen Regierungen gefährlich ist, tragen die Kommunisten Verantwortung.
Es heißt bei uns, aus der ökonomischen Reform mit all ihren unvermeidlichen Härten folge erst die demokratische.
Es gibt keine zwangsläufige Entwicklung von der einen zur anderen. Die alleinige Konzentration auf die Erfordernisse der Ökonomie führt die Gesellschaften in die Sackgasse. Denken Sie an Südostasien. In China stellt der Versuch, die Lasten der ökonomischen Reform dem Volk aufzubürden, einfach die antidemokratische Grundhaltung der Machthaber unter Beweis.
Sie verneinen die Notwendigkeit einer „Politik der kleinen Schritte“, zum Beispiel Wahlen auf lokaler Ebene?
Das sind Betrugsmanöver, die sich regelmäßig wiederholen. Aber selbst wenn solche Wahlen korrekt abliefen – was nutzten sie ohne garantierte Grundfreiheiten, ohne Rechtsstaatlichkeit?
Wie weit reicht Ihre Stimme? Werden die Massen im ländlichen China sich je für Demokratie begeistern?
Es gehört zu den Gemeinplätzen westlicher Beobachter, an die Unbeweglichkeit der chinesischen Bauern zu glauben. Aber die chinesische Demokratiebewegung von 1989 war nicht auf die Studenten, die städtischen Intellektuellen und die Arbeiter begrenzt. Die Analysen, die den unwandelbaren Interessengegensatz von Intellektuellen und Volk behaupten, sind oft das Produkt des Beobachter- Ghettos, in dem diese Analytiker in China leben. Sie zeugen von Ignoranz – und von Überheblichkeit. In China gibt es schon eine fast hundertjährige Erfahrung mit demokratischen Regeln, die aber stets frustriert wurde. Wir sind auch Menschen. Wir sind auch „Westler“. Man kann uns nicht etwas Geld geben und gleichzeitig ins Gesicht spucken.
Was sollen wir, was wollen Sie für die Demokratie in China tun?
Sie sollen Druck auf Ihre Regierungen ausüben, damit diese nicht die Machthaber in Peking, sondern die demokratische Bewegung unterstützen. Erst demokratische Reformen, dann ökonomische Hilfe. Der Weg dorthin? Nur Druck von unten in China und Druck von außen seitens des Westens. Ich selbst werde versuchen, unter den Politikern Überzeugungsarbeit zu leisten. Viele raten mir, mich gesund pflegen zu lassen. Aber was hilft mir meine Gesundheit, wenn über China das Chaos hereinbricht? Interview: Christian Semler
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