: Glücklicher im November als im Juni
Jugend am Wochenende oder wie man richtige Haltung einnimmt: Die niederländische Fotografin Rineke Dijkstra siedelt ihre Porträts zwischen Selbstbehauptung und individueller Identität an. Jetzt zeigt das Folkwang Museum Essen ihre „Menschenbilder“ ■ Von Brigitte Werneburg
Das dünne Mädchen im hellgrünen Badeanzug am Strand von Kolobrzeg in Polen, aufgenommen im Juli 1992, balanciert auf keiner Muschel; kein Windgott bläst ihm die Locken aus dem Gesicht, und doch ist es – wie es dem Betrachter in geknickter S-Form zugewandt dasteht – unmöglich, in ihm das Motiv von Botticellis Venus zu übersehen. Die Fotografie des Mädchens am Strand von Kolobrzeg ist das wohl bekannteste Bild der inzwischen weit publizierten „Beaches“-Serie der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra. Mit 18 Arbeiten im kleinen Format von 60 mal 50 cm zieht sich die Serie beim Betreten des Ausstellungsraums im Folkwang Museum Essen friesartig die rechte Wand entlang. Ihr gegenüber sind vier neue Arbeiten gehängt, im großen Format von 120 mal 100 cm. Sie zeigen Torreros, zerzaust, blutbefleckt, mit verrutschter und zerfetzter Kleidung, aufgenommen unmittelbar nach dem Kampf. Doch zum eigentlichen Zentrum des ersten schweifenden Blicks wird Tia. Im Hintergrund, doch frontal zum eintretenden Besucher gehängt, ziehen ihre beiden Großporträts die erste Aufmerksamkeit auf sich.
Dijkstras effektfreie Großaufnahmen von Tia erinnern an die nüchtern protokollierenden Fotoplakate, die Thomas Ruff Ende der 80er Jahre von seinen Kommilitonen an der Kunsthochschule Düsseldorf gemacht hat. Freilich sieht Tia, am 23. Juni 1994 aufgenommen, ein bißchen müde, ja ein wenig verhärmt aus, während sie am 14. November des gleichen Jahres sanft, aber voller Energie zu strahlen scheint. Tia im November ist glücklicher als Tia im Juni. Das läßt sich nur als eine Nuance beobachten, doch gerade dieser Umstand verdeutlicht, daß Dijkstra mit ihren Porträts etwas völlig anderes beabsichtigt als Ruff.
Dijkstra ist nicht eigentlich skeptisch gegenüber dem Porträt, im Gegenteil; es ist auch nicht unklar, aus welchen Motiven heraus sie ihre Protagonisten fotografiert, das läßt sich deren Mimik, Körpersprache und Kleidung ohne weiteres entnehmen. Mit ihren Porträts betreibt Dijkstra eine Feldforschung in einem Bereich zwischen Psychologie und Soziologie. Was sie findet, ist das moral standing ihrer Protagonisten, das, was man Haltung nennt. Über Mimik, Körpersprache und Kleidung hält sie die Versuche ihrer Protagonisten fest, innerhalb der Situation, in der sie von der Fotografin angetroffen werden, die sozial adäquate – und doch nur ihnen eigene – Haltung einzunehmen.
Das ist bei den drei Mädchen in Liverpool zu erkennen, die sich für den Besuch des „Buzzclub“ in Schale geworfen haben. Schwarz ist angesagt, aber jedes Mädchen trägt es mit einem anderen Akzent; ein Mädchen setzt auf drei dünne Goldkettchen und hat die Haare brav nach hinten gesteckt, ein anderes läßt sein Haar offen, während zwischen schwarzem Top und schwarzen Hot pants der Bauchnabel hervorblitzt. Das mollige dritte Mädchen im schmucklosen schwarzgrünen Karohänger posiert kindlicher und wirkt damit so sexy, wie es sich die beiden anderen erträumen. Allein die Zigarettenschachtel in der rechten Hand ist ihr Signum des Erwachsenseins.
Um die Frage nach Selbstbehauptung und individueller Identität zu klären, reichen Dijkstra wenige Bilder, manchmal schon zwei Fotos, um zu der Serie zu kommen, die ihr Konzept deutlich macht. Es reicht ihr, die richtige Person am richtigen Ort zu treffen: drei Leute von der Wall Street auf der Wall Street; drei junge Mütter mit ihren frischgeborenen Babys, zwei Jungen von einer Schule in Liverpool; für eine Videoaufnahme zwei Jungen in einem Techno-Club in Zaandam, Holland.
Die richtigen Personen sind bei Dijkstra meist sehr jung. Junge Menschen haben weniger Routine, der individuellen Haltung ein Rollenbild vorzublenden. Dijkstra nutzt dieses Moment der Schwäche, um es als die Stärke ihrer Bilder auszuspielen. Sie tut es nicht herausfordernd, im Gegenteil; sie wertet die Haltung dem Rollenbild gegenüber nicht auf und damit Politik und Geschichte ab. So scheint das Herkommen aus unterschiedlichen Gesellschaften mit einer je unterschiedlichen Geschichte und Kultur bei den nordamerikanischen und osteuropäischen Jungen und Mädchen ihrer Strandserie trotz des zeichenarmen Hintergrunds aus Meer und Himmel ohne weiteres ersichtlich.
Rineke Dijkstra studierte an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam und arbeitete danach für Zeitschriften und Kunststiftungen, in deren Auftrag sie Porträts von Wirtschaftsleuten, Künstlern und Schriftstellern fertigte. Diese Auftragsarbeiten entstanden mit einer Mittelformatkamera und in Schwarzweiß. Zwei Fotografien einer Vitrine ist zu entnehmen, daß sie diese auf ein Stativ gesetzte Kamera weiterhin benutzt. Im Sand abgestellte Aluminiumkoffer, Akkus, Blitzlampen mit und ohne Schirm, die AssistentInnen – all das ergibt einen Set, der in seinem Aufwand an Filmaufnahmen erinnert und kaum ein spontanes, den Kräften der Situation folgendes Fotografieren erlaubt. Das Ziel ist das in sich stimmige Tafelbild.
Die Hängung in Essen unterstützt diese klassische Einstellung. Gerade dann, wenn mit der Strandserie im kleinen Format dem Pomp der Großformate entgegengearbeitet wird, wenn die Videomonitore so an die Wand gerückt sind, daß sie nur als eine Art Bilderrahmen erscheinen. Dieses Auf-Distanz-Gehen unterstützt Rineke Dijkstras Anliegen. Schließlich befragt sie auch schon ein kleines Mädchen von vielleicht fünf bis sieben Jahren, Kind bosnischer Flüchtlinge, wie es seine Haltung gewinnt, im kargen Dekor des Flüchtlingsheims. Almerisa im März 1994 ist blaß und in ihre Kleidung regelrecht eingepackt. Almerisa im Juni 1996 sitzt im luftigen Sommerkleidchen auf dem häßlichen, dunklen Holzstuhl. Sie ist gewachsen, sie ist leicht gebräunt, sie hat an Farbe gewonnen.
Bis 24. Mai, Folkwang Museum Essen, Katalog 34 DM
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