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Pragmatisches Pfeifen der Königinnen

■ Domorganist Wolfgang Baumgratz wird Präsident der Gesellschaft der Orgelfreunde

Zur Zeit scheint es fast so, als würde die gesamte Menschheit ihre geballten cerebralen Energien auf zwei Themenkomplexe richten, die Frage des angemessenen Benzinpreises und das wachsende Grausen, verursacht durch die Aufholjagd des FC Bayern. Doch mindestens 6.000 Wesen existieren zwischen Südafrika, Japan und Kanada, die sich anderen relevanten Fragen hingeben, zum Beispiel wie man eine Schnitger- oder Silbermannorgel restauriert oder welche Sweelinckstücke besser unter Verzicht auf den Einsatz der beiden Daumen zu spielen wären. Diese außerordentlichen Individuen haben sich im Jahre 1951 zusammengeschlossen zur Internationalen Gesellschaft der Orgelfreunde (GdO). Eine Tatsache, die für den hiesigen Lokalteil kaum Relevanz beanspruchen könnte, wenn nicht der neu gekürte Präsident der GdO Wolfgang Baumgratz hieße. Der wurde 1979 im zarten Alter von 31 Jahren Bremer Domorganist und ist seit 1989 Leiter des Studiengangs Kirchenmusik an der HfK.

Kein Fachgebiet ist so klein, daß es nicht interdisziplinär arbeiten könnte. Und so tauschen auch in der GdO Orgelbauer, Organisten, Musikwissenschaftler und Theologen auf diversen Fachtagungen ihre unterschiedlichen Erkenntnisse und Erfahrungen aus. Wolfgang Baumgratz erzählt, daß neue Einsichten im Orgelbau zum Beispiel der Romantik durchaus Auswirkung auf seine Interpretation von Regerstücken haben.

Zur Zeit gibt es in der Welt der Orgelrestauration zwei Schwerpunktthemen. Das eine sind die Orgeln des 19. Jahrhunderts. Die wurden nämlich lange Zeit unterschätzt und erst mit zunehmendem Restaurierungsbedarf aufgewertet und gründlich erforscht. Das andere ist der desolate Zustand der Orgeln in den neuen Bundesländern. Aufgrund der rigiden Religionspolitik vernachlässigte die DDR die Königinnen der Instrumente sträflich. Auch heute werden sie vernachlässigt. Allerdings aus einem anderen Grund, nämlich der Abwesenheit von Geld. Man sieht, die Welt ist in steter Wandlung begriffen. Auch die Orgelwissenschaft ist im Fluß. Dessen Wellengang wird verzeichnet in der Vierteljahreszeitschrift „Ars organi“. Dort diskutiert man zum Beispiel über die Konzeption neuer Orgeln. Die einen favorisieren ein auf Barock oder Romantik spezialisiertes Profil, die anderen eher ein breitgefächertes Pfeifenwerk. Expertenmeinungen neigen dazu ideologisch-absolutistisch aufzutreten, meint Baumgratz. Die GdO aber bemüht sich, in Fragen der Restaurierung und Interpretation pragmatisch zu verfahren. bk

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