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Macht des Fingers

■ Flamencotänzerin Juana Amaya im Schlachthof

Jario Barull schreitet in die Arena. Aus Mangel an Stieren, Frauen und anderen arglistigen Geschöpfen bohren sich zwei schmale, stechende Augen – sie wären als Zielobjektiv einer Pershingrakete durchaus geeignet – in die hochaufragende Zuschauerwand der Kesselhalle. Feind gesichtet, Feind gebannt. Im weiteren Verlauf des Abends ist die bevorzugte Haltung von Kopf und Augen aber nicht horizontal, sondern eine Spur schräg, entweder gen Himmel oder gen Erde gerichtet: Selbstversunkenheit oder eine Überlegenheit, die alles Irdische hinter sich läßt, zwei beliebte Lebenshaltungen in der wilden Welt des Flamenco.

Fetischtaugliche Schuhe voller Spitzen und Haken klopfen einen Rhythmus, so hurtig und aggressiv wie die MP-Salven einer Mickey-Spillane-Verfilmung. Der Träger der Schuhe ist gerade mal 14 Jahre alt – sagt das Plakat, sagt die Konzertankündigung, sagt der Conferencier. Mit anderen Worten: alles höchst guinessbuchrekordverdächtig, als ginge es um die Befriedigung von Leistungssportidealen.

Doch der erste Eindruck trügt. Flamenco ist hier keine Sportschau, sondern die Geburt der Explosion aus der Stille. Barull und Juana Amaya sind Vesuv und Ätna, zeigen gefaßte Haltung, gespanntes Rückgrat, perfekte Bodenhaftung – und manchmal kommt es zur Explosion. Der Ausbruch geht aus von der Körperperipherie, zum Beispiel vom kleinen Finger. Der nimmt Abstand vom Ringfinger, zieht seine vier Kollegen mit, wandert Richtung Handteller, zwingt so das Handgelenk zu einer eleganten Drehung und induziert eine Hochspannung, die sich in den Beinen entlädt und im Gesicht widerspiegelt.

Das Gesicht! Bei Juana Amaya Meer (und mehr) der Gefühle, da helfen nur exorbitante Metaphern. Kräftige Muskelstränge modellieren aus einer harmlos-wunderschönen, weichen Ornella-Muti-Fassade ein wildes Medusenantlitz. Und wenn die Ruhe erst einmal eine vor dem Sturm ist, dann fängt die 30jährige an zu sprechen, ganz lautlos natürlich. Es sieht aus wie klingonisch oder das Schnappen eines Fischs. Jario Barull dagegen genügt sein gutes Aussehen, mit ironisch gebogener Nase fast wie der junge Tom Cruise.

200 Meter weiter auf der Osterwiese ist Harrison Ford anzutreffen. Dem bunten, haushohen Attrappenmann schleudert alle paar Sekunden der Kabinenriegel der brandneuen, 18 Millionen Mark teuren Magenschleuder „Indiago“entgegen. Die Konzertpause reicht gerade schön für eine Fahrt. Auf die muß man um 21.30 Uhr allerdings 15 Minuten warten. Zu wenig Leute. „Im Ruhrpott ist der Laden um diese Zeit noch voll. Man merkt es, daß die Leute hier wenig Geld haben und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Aber die können nichts dafür. Wir sind das Volk – nur das Volk“, meint der Kartenabreißer. Antizyklisch zur unterproportionalen Indiago-Auslastung steht die riesige Flamenco-Begeisterung der Bremer. Besteht ein Zusammenhang? Wenig Geld für das Spiel mit der Schwerelosigkeit, doch noch Geld für eine Kunst der Strenge und Disziplin? „Speziell in Norddeutschland ist der Flamenco sehr beliebt“, sagt der Bierausschenker in der Kesselhalle. Eine Allianz aus tiefstem Süden und höchstem Norden in Sachen Ernst? Ziehen dann die Süddeutschen die entspanntere, freundlichere Steppkunst eines Fred Astaire und einer Ginger Rogers vor? Wäre zu überprüfen.

Jedenfalls ziehen alle vernünftigen Menschen Harrison Ford einem Tom Cruise vor. So beeindruckend Jario Barulls Trittquote und Blickfestigkeit, seine ältere Kollegin hat mehr Energie in den Nebenbewegungen, in Hüfte, Schulter, Hals. Und so ist dieser Abend nicht zuletzt ein Beleg für eine altbekannte Wahrheit: Frauen sind die besseren Machos. Bestätigt wird das auch durch ein wunderbares Gesangsduo mit herr-schaftlicher Dame und weichem Herrn. Die Essenz aber ist eine echte Lebenslehre: Auf-der-Stelle-Treten kann spannend wie ein Krimi sein. Und: Jeder tut's auf seine Weise. Ganz am Schluß versuchen sich in einem großen Verbrüderungsakt auch Sänger und Gitarristen im Steppen, mehr oder weniger skurril, und ernten Vulkanausbrüche von Applaus – ganz und gar nicht darwinistisch oder leistungsoriertiert. bk

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