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Jährlich eine Kernschmelze

Schwedische Reaktoren haben Systemschwächen, die eine Kernschmelze 25mal wahrscheinlicher als in osteuropäischen „Schrottreaktoren“ macht  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Nordeuropas unsicherste Reaktoren stehen nicht in Litauen oder Rußland, sondern in Schweden. Zwar würde eine Havarie in Ignalina oder Sankt Petersburg katastrophalere Auswirkungen haben, da diese AKWs über keinen Reaktoreinschluß verfügen. Aber die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze ist bei diesen osteuropäischen „Schrottreaktoren“ 25mal niedriger als im Sicherheitsmusterland Schweden.

Diese alarmierende Einschätzung kommt nicht von AtomkraftgegnerInnen, sondern von der Betreibergesellschaft dieser Reaktoren selbst. Sydkraft, dessen Aktienkapital mittlerweile zu fast einem Drittel bei der deutschen PreussenElektra liegt, hat gestern einen entsprechenden Rapport bei Schwedens Atomsicherheitsbehörde SKI abgegeben. Demnach betreibt der Kraftwerksbetreiber seit Jahrzehnten wissentlich Atomreaktoren, die die betriebseigenen, nationalen und internationalen Sicherheitsvorgaben massiv unterschreiten. Die Sicherheit von Atomreaktoren soll nach Empfehlungen der Internationalen Atomagentur (IAEA) so ausgelegt sein, daß die statistische Wahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze nicht höher als eins zu 100.000 liegt.

Beim Sydkraft-Reaktor Oskarshamn 2 an der schwedischen Ostseeküste liegt dieser Wert nach betriebseigenen Einschätzungen 25mal höher: bei eins zu 4.000. Bei allen Schwächen solcher statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf jeden Fall ein gewaltiger Unterschied: Die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze beträgt bei einer 40jährigen Lebensdauer eines Reaktors nämlich dann immerhin ein Prozent.

Würden weltweit alle Reaktoren unter so flagranter Verletzung der Sicherheitsstandards betrieben werden, könnte man sich statistisch darauf einstellen, daß Kernschmelzen vom Typ Harrisburg zum nahezu jährlichen Ereignis gehören würden.

Neben Oskarshamn 2 laufen zwei weitere Sydkraft-Reaktoren mit diesem Sicherheitsrisiko im südschwedischen Barsebäck – deren einer laut Regierungsbeschluß allerdings am 1. Juli stillgelegt werden soll. Alle drei Reaktoren haben einen „grundlegenden Systemfehler“ (Sydkraft), sie sind nämlich von einem Billigtyp der US-Firma Westinghouse, bei dem kräftig bei der Sicherheit gespart wurde: Es gibt nur zwei voneinander unabhängige Notstromsysteme. Bei den meisten seit Ende der sechziger Jahre gebauten AKWs sind es dagegen vier. Viele Altreaktoren und solche aus russischer Produktion wurden inzwischen auf diesen Standard hochgerüstet.

Daß Sydkraft dies nicht für erforderlich hielt, vermag Tommy Cervin von der Konzernleitung der Firma nicht recht zu erklären: „Das bedeutet ja nicht, daß wir die Reaktoren nun stillegen müßten, sondern nur, daß wir etwas tun sollten.“

Eine reichlich späte Erkenntnis, die auch die Sicherheitsbehörde SKI hat reagieren lassen. Mit einem gestern bekanntgewordenen Brief vom 15. April wird Sydkraft eine Frist zum 15. Juni gesetzt, um klarzumachen, was genau man plane, um die Sicherheitslücke zu schließen. Laut Lars Gunsell, Abteilungschef für Reaktorsicherheit bei der SKI, ist eine Schließung der Reaktoren nicht aktuell. „Aber irgendwo gibt es natürlich eine Schmerzgrenze.“ Sydkraft plant laut Tommy Cervin, zunächst das mangelhafte Stromversorgungssystem „robuster“ zu machen. Bei Oskarshamn 2 werde dies sicher bis Sommer 1999 dauern. Ein Ausbau auf vier unabhängige Stromversorgungssysteme sei aber offenbar nicht geplant. Bei den Barsebäck-Reaktoren scheinen keinerlei Investitionen geplant zu sein, da der letzte der beiden Reaktoren spätestens 2001 stillgelegt sein soll. Bis dahin will man wohl weniger auf Sicherheit als auf das Prinzip Hoffnung setzen.

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