: Alltagsbewältigung wird zum Intelligenztest
■ betr.: „Der Preis der Freiheit“ von Ute Scheub, taz vom 24. 4. 98
Nach einer teilweise schönen Darstellung gegenwärtig sich ausbreitender Lebensumstände (zunehmende Abstraktivität und Individualisierung der Produktionsverhältnisse) ist ihr Schluß „statt neuer Werte kollektiver Widerstand gegen die aktuelle Entwicklung“ einigermaßen ungereimt; denn gerade die neue Abstraktivität der Arbeitsumstände verhindert doch, daß sich Unzufriedenheit mit den Verhältnissen auf ein irgendwie „äußeres“ Objekt richten könnte; wie soll man gegen „nackte Zahlen“ oder neue technische Geräte Widerstand leisten? Sie aber haben die Rolle übernommen, die einst die „Ausbeuter“ innehatten, die es nur zu beseitigen galt. Man sucht heute die Verantwortung vor allem deshalb bei sich selbst, weil keine anderen Verantwortlichen sichtbar sind.
Zweitens entspricht der flexibel rotierende Mensch eben tatsächlich sehr dem „Ideal der Moderne“ – was bedeutet, daß Widerstandsbemühungen gegen die aufkommenden Verhältnisse einen hohen Lächerlichkeitsfaktor haben. Alltagsbewältigung wird mehr und mehr zu einem Intelligenztest mit hohen Anforderungen an die Kreativität, das hat Frau Scheub soweit gut erkannt. Soll man nun dagegen sagen: Wir möchten keine neuen Computersysteme mehr, weil wir doch so schön die alten gelernt haben? Wie unkreativ und unintelligent!
Gegen die unsicheren Verhältnisse kann man sich als moderner Mensch also schlecht wehren; der eigentliche Mißstand besteht dann aber darin, daß den Leuten, die mit den neuen Flexibilitäten noch wenig Erfahrungen haben (sozusagen noch nicht dagegen abgehärtet sind), keine Hilfen angeboten werden, damit besser umzugehen. Dieser Mangel wird aber sowohl von denen unterstützt, die auf den harten Verdrängungswettbewerb setzen, wie von denen, die im Namen sozialer Sicherheiten alles so lassen wie bisher und damit vor allem die geistige Trägheit auf den Schild heben. Reimund Spitzer, Berlin
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