Gib' dem Süden Saures

■ Hamburgs gefährlicher Spezial-Alk: Der „Saure“ / Herstellung „Top secret“ – völkerkundliche Betrachtungen eines Südstaatlers Von Christoph Ruf

Er kommt harmlos wie Saft aussehend in Schnapsgläschen daher. Und die HamburgerInnen bekommen diesen albern-niedlichen Stolzesblick, wenn sie von ihm schwärmen: der „Saure“. Er muß für alle Minderwertigkeitskomplexe herhalten, die der Hanseat gegenüber der kulinarischen Vielfalt des Südens entwickelt hat. Und überhaupt ist es nicht leicht mit den BesucherInnen aus dem Süden der Republik; Berge gibt's nicht, Biergärten, gutes Wetter und Temperament eigentlich auch nicht.

Aber Hamburg als kulinarische Wüste zu bezeichnen – das schmerzt schon gehörig. Mit Labskaus und Aalsuppe läßt sich auch nicht endlos prahlen. Aber dann zieht der Hamburger die Wunderwaffe gegen alle Überheblichkeit des Südstaatlers: der Saure! Ein Glück, daß es ihn gibt; jenes undefinierbare Gesöff, das mal grün, mal rot, mal blau, meist jedoch schlicht grau vor einem steht.

Zunächst gibt sich der Süddeutsche unbeeindruckt: „Saurer Apfel henn mir in Schwäbisch-Gmünd au.“ Bis er oder sie ihn, den geheimnisvollen Sauren, heruntergekippt hat und erkennen muß: Die HanseatInnen geben sich nicht mit „Berentzen“-Massenware zufrieden. Einigermaßen beeindruckt muß schließlich eingestanden werden, der Kurze habe „scho saugud“ geschmeckt. Eben.

Dabei weiß der einfache Konsument gar nicht so genau, woraus der Wundertrank besteht. Herstellung ist nämlich „Top Secret“ und von Dorf zu Dorf, von Eimsbüttel bis Blankenese, von Freak zum Spießer höchst unterschiedlich. Eines steht wenigstens fest: Die trübe Färbung nebst spezifisch saurem Geschmack erhält das Elixier aus einem speziellen Lemon-Sirup. Der Rest ist geheim, schließlich erzählt auch Paul Bocuse nicht jedem Hanswurst (und schon gar keinem süddeutschen), woraus seine preisgekrönten Menüs bestehen.

Während der eine Barkeeper hinter vorgehaltener Hand durchblicken läßt, etwas anderes als Wodka verbiete sich als Alkohol-Basis von selbst, kommt anderen nichts als Tequila in die Flasche. „Das eigentliche Geheimnis ist ein Schuß Gin“, erklärt mit Verschwörer-Blick ein weiterer Geheimbündler hinter einem Altonaer Tresen.

In einer Kneipe auf St. Pauli hält frau indes wenig von derart ausgefallenen Kombinationen: „Alles Quatsch. Lemon und Korn, mehr darf nicht rein – sonst ist–s kein Saurer“. Kein Zweifel, die junge Frau versteht ihr Handwerk: „Curacao, Genever, Kiwi-Likör“ – das sorge für die individuelle Färbung.

Und um die südländische Verwirrung perfekt zu machen, steht plötzlich etwas auf dem Tisch, das so aussieht, wie es heißt: „Embryo“, sagt sie, „gibt's nur in Hamburg, roter Genever mit einem Schuß Eierlikör“.

Und spätestens jetzt, bei dem angeekelten Gesicht, weiß der Hamburger wieder, was er nie hätte vergessen dürfen: Es ist eine höchst undankbare Aufgabe, einen Süddeutschen von den Vorzügen hanseatischen Lebens überzeugen zu wollen. Und was den aufgeschlossenen und trinkfreudigen Quiddje von jenseits der Berge angeht: Wer allzusehr aufs kulturell-alkoholische Untertauchen schwört – „going native“ würde der Ethnologe sagen –, den bestraft schon bald ein großer saurer Kater.