Das Auge als Interface

■ Der Reader des Hamburger Kongresses „Interface 2“ gibt einen Überblick über Wahrnehmungsgeschichte – und einiges mehr

Eine große Sprechblase hat sich mittlerweile über die neuen Medien gestülpt. Noch bevor das Internet zum Massenphänomen geworden ist und Cyberspace mehr als ein großmäuliges Computerspiel bedeutet, werden von allen Seiten vorauseilende futuristische Szenarien entworfen, die gerne die Segnungen der neuen Medien unter der Schirmherrschaft des Computers als Metamedium preisen. Ein Thema, das Beachtung verspricht und Karrieren fördert. Kritischen Einwürfen begegnen die Techniker der neuen Bilderwelten, die Hacker und Computerdesigner, gelassen, denn ihre Errungenschaften wurden bisher allein aus ökonomischen Gründen stets nach unten durchgelassen. Oder haben Sie etwa keinen CD-Player?

Die Dokumentation des Kongresses Interface 2, der im letzten Jahr in Hamburg unter dem Motto „Weltbilder – Bildwelten“ veranstaltet wurde, geht die Sache anders an. Statt Zukunftsszenarien zu entwerfen, werden die computergenerierten Bildwelten und Weltbilder an eine Vergangenheit angeschlossen. So setzt der Lüneburger Kulturwissenschaftler Karl Clauseberg das Auge als erstes Interface ein. Durch die Entdeckung der apparateähnlichen Funktionsweise des Auges, als vorderste Schnittstelle (Interface) zwischen äußerer und innerer Welt, durch Johannes Kepler tauchte der Prototyp des Interface bereits Anfang des 17. Jahrhundert auf.

Daß es in der Geschichte der Wahrnehmung auch vor dem Aufkommen des Computers schon grundlegende Wahrnehmungsverschiebungen gegeben hat, ist ein Motiv, das rückversichernd immer wieder in dem aus diversen Vorträgen zusammengeschraubten Reader auftaucht. Insbesondere der Paradigmenwechsel durch die Zentralperspektive, die subjektzentrierte und nicht mehr wie noch im Mittelalter die Nähe zu Gott bezeichnende Bildanordnung, zieht sich gleichsam als roter Faden durch das voluminöse Buch. Die so geleistete durchweg lehrreiche Historisierung zeigt aber andererseits, wie sich gegenwärtig verschiedene Wissenschaften um Zuständigkeit und Aussagehegemonie balgen.

In dem Reader Weltbilder – Bildwelten legen diverse Fachbereiche (Kunstwissenschaftler und Philosophen, Mediziner und Physiker, Informatiker und Kunstkritiker, Pädagogen und Kuratoren), durch die Kürze der Beiträge arg skizzenhaft, ihre Sicht auf neue Medien und neue Wahrnehmungen dar. „Die Kommunikation als ästhetisches Gebilde, als Kunstwerk der Zukunft“, schreibt der Herausgeber Klaus Peter Denker dem Kongreß etwas vollmundig ins Stammbuch, „könnte sich aus den durch die elektronischen Medien bewirkten neuen Erfahrungswelten (Bildwelten) ergeben, die zu einer Veränderung der Wahrnehmungsstruktur und diese zu einer Veränderung der Bewußtseinsbildung (Weltbilder) führen.“

Dieser Themenvorgabe nähern sich die Referenten allerdings mit weit auseinanderliegen-den Textformen: Feixige Glossen über den Umgang mit dem PC von Burkhard Spinnen stehen Polemiken von Florian Rötzer über die Ohnmacht der Kunstkritik angesichts der Videokunst, penible medizinische Darstellung der Schädelasymmetrien neben launigen Entwürfen des konstruktivistischen Philosophen Heinz von Foerster. Mit Hilfe einer Einteilung in größere thematische Blöcke ist es den Herausgebern, wenn auch bisweilen recht willkürlich, gelungen, das Kompendium zu gliedern. So findet in Weltbilder – Bildwelten sowohl luftiger Unsinn als auch luzide Einschätzungen einen Platz und generiert im alten Medium Buch einen spannenden Überblick über den Stand der Dinge in Computer- und Wahrnehmungsgeschichte, der den Mut hat, über Brüche, Gegensätze und Dispersionen in der Diskussion nicht hinwegzusehen, sondern –a la longue gerade auch diese zu nutzen.

Volker Marquardt

„Weltbilder–Bildwelten“, Dokumentation zu Interface 2, Hrsg.: Klaus Peter Denker, Verlag Hans Bredow-Institut, 439 S., 35,– Mark.

Vom 1. bis 3. November findet in Hamburg unter dem Titel „Labile Ordnungen“ die Tagung Interface 3 statt, die sich mit dem Thema „Netz/NetzWelten“ beschäftigt.