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Kulturfrei hausen in Billstedt

■ GAL gegen Billstedter Neubauprojekt / Wohnungsboom unter Verzicht auf Sozialeinrichtungen / Kein „Modell Mümmelmannsberg“ Von Marco Carini

Die Frage ist nur rhetorisch gemeint: „Muß es in Hamburgs Osten genügen, ein Betondach über dem Kopf und einen Videorekorder im Zimmer zu haben?“ So bringt die Billstedter GALierin Heidi Zietz ihren Protest gegen das „Sozial-Monster-Bauwerk“ auf den Punkt.

Da die korrekte Antwort „nein!“ lauten muß, und weil es „kein zusammenhängendes Stadtteil-Entwicklungskonzept“ für Billstedt gibt, kündigten die Grünen des Bezirks Mitte am Wochenende ihren Widerstand gegen eines der spektakulärsten Neubauprojekte Hamburgs an: Die Errichtung einer Retortensiedlung direkt über den U-Bahn-Gleisen an der Haltestelle Legienstraße.

Die Bebauungspläne für die neue Siedlung liegen bereits seit vergangener Woche im Billstedter Ortsamt aus. Die U-Bahngleise sollen danach mit einer Betonplatte überdeckelt werden, auf der rund 880 Wohnungen – darunter 160 Senioren-Wohneinheiten – Platz finden können. Alle Wohnungen werden mit öffentlichen Mitteln gefördert. In den fünf- bis siebengeschossigen Neubauten sollen außerdem ein Kindertagesheim mit 164 Plätzen und „eventuell“ eine Jugendeinrichtung untergebracht werden.

Die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts am Schiffbeker Weg ist bereits für Ende 1996 anvisiert. Rund 275 Millionen Mark soll das Gesamtprojekt kosten. Zu teuer, klagt die GAL, die in dem Neubauprojekt einen „Fall für den Rechnungshof“ sieht. Durch den 100 Millionen Mark teuren Gleisdeckel würden die Grundstücks- und Erschließungskosten den Richtwert für den sozialen Wohnungsbau um 300 Prozent übersteigen. „Bevor dem Projekt zugestimmt wird“, so die Bezirks-Grünen, müsse „eine Prüfung der Kosten im Vergleich mit anderen Projekten des sozialen Wohnungsbaus öffentlich vorgelegt werden“.

Doch mehr noch als die hohen Kosten stört die GAL, daß das Mammut-Projekt „die soziale Benachteiligung des Stadtteils“ verstärken werde. Denn schon heute verfügt Billstedt über keine ausreichende „soziale Infrastruktur“: Im Stadtteil fehlen kulturelle Angebote, Treffpunkte für verschiedene Altersgruppen und Einrichtungen für sozial Benachteiligte. Obwohl laut Berechnungen der GAL in Billstedt in den vergangenen Jahren per anno rund 500 Neubau-Wohnungen fertiggestellt wurden, sei in diesem Zeitraum „keine einzige neue Sozialeinrichtung“ für den zusätzlichen Bedarf hinzugekommen.

Das Defizit an sozialen Einrichtungen könnte sich noch verstärken: Denn neben den 880 Behausungen an der Legienstraße sollen nach Berechnungen der GAL in den nächsten fünf Jahren weitere 2263 Neubauwohnungen in Billstedt/Horn errichtet werden. Doch auch bei anderen geplanten Projekten, wie der Siedlung „Haferblöcken“ mit etwa 1000 Wohneinheiten, würden soziale Treffpunkte und Stadtteil-Zentren fehlen, geplante Jugendeinrichtungen seien finanziell überhaupt nicht abgesichert.

Deshalb befürchtet die GAL eine Stadtteilentwicklung nach dem „Modell Mümmelmannsberg“. Dort wurde bereits 1970 die Errichtung einer Kindertagesstätte im Bebauungsplan festgeschrieben. Gebaut wurde die Einrichtung aber erst ein bißchen später: in diesem Jahr.

Die Bebauungspläne für die Überbauung der U-Bahngleise an der Legienstraße können noch bis zum 1. September im Ortsamt Billstedt (Zi. 314) eingesehen werden.

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