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Kleine Maßnahme mit großer Wirkung

■ Neuer Pferdemarkt: Straßenumbau beruhigt weder Verkehr noch Gemüter Von Clemens Gerlach

Das Tempo ist rekordverdächtig. In nur sechs Wochen haben Baubehörde und Bezirksamt Mitte es geschafft, halb St. Pauli auf den Kopf zu stellen – gemeinsam oder nur gemein? Seit Pfingsten ist das Viertel um Neuen Pferdemarkt und Wohlwillstraße eine einzige Baustelle. Dabei handele es sich nur um „eine kleinere Maßnahme“, betont Peter Schott, Leiter der Tiefbauabteilung im Bezirksamt. Aber eine mit großer Wirkung: Anwohner schimpfen massiv über den „Schwachsinn“, der die Sackgasse Neuer Pferdemarkt in eine stark befahrene Durchgangsstraße verwandelt hat. Eine Interessengemeinschaft wurde gegründet und über 800 Unterschriften gesammelt.

Gut gemeint hatte es das Bezirksamt schon, das ein „politisches Versprechen“ der SPD endlich einlösen wollte: Der Durchgangsverkehr solle aus dem Viertel raus. Zu viele „Ortsunkundige“, vor allem Laster und Reisebusse, würden durchs Wohngebiet fahren, weil sie am Ende des Neuen Kamps nicht nach links in die Budapester Straße abbiegen dürften. Kein Problem: Zusätzliche Spur einrichten, Ampel anders schalten, fertig – sollte man meinen. Aber nicht die Fachleute vom Bezirksamt: „Das geht nicht, weil sich der Verkehr an der Kreuzung zu stark stauen würde“, klärt Schott auf.

Darum mußte jetzt wie wild gebuddelt werden. Beim Grünen Jäger dicht, Neuer Pferdemarkt offen und ein schmucker Linksabbieger für den Neuen Kamp samt neuer Verkehrsinsel – macht eine halbe Million Mark. Dafür kann man aber auch nicht mehr vom Neuen Pferdemarkt Richtung Schanzen- und Karoviertel abbiegen. „Wir sind total abgeschnitten“, klagt Jürgen Fabel, der seit 39 Jahren vor Ort ein Tabakwarengeschäft betreibt. „Die Lieferwagen kommen kaum noch durch“, ergänzt Möbelhändler Gerd Jonas. Nicht nur die beiden fürchten langfristig um ihre Umsätze. „Viele Geschäftsleute sind sauer“, weiß Sandra Jung, die die Interessengemeinschaft ins Leben gerufen hat. Die Blumenhändlerin hat an die Bezirkspolitiker geschrieben und „die Wiederherstellung der alten Straßenführung“ gefordert. Doch die Parteien in der Bezirksversammlung sind sich einig. „Selbst die Grünen ziehen mit“, wundert sich Jung. Sie stört sich auch daran, daß die Anwohner nicht rechtzeitig informiert worden seien: „Die Bauarbeiter haben uns gesagt, was geplant ist.“

Anfang August werden die Baumaßnahmen beendet sein. „Wenn die Leute aus den Ferien zurück sind“, fürchtet Jung, „geht das Chaos erst richtig los“. An die vielen Dombesucher mag sie noch gar nicht denken. Doch schon jetzt suchen sich Autofahrer neue Auswege: Lerchen- und Annenstraße werden verstärkt behelligt. Von „Verkehrsberuhigung“ könne keine Rede sein, so Zeitungshändler Fabel: „Es ist schlechter als vorher, die Autos fahren viel schneller.“ Die Folgen haben die Anwohner zu tragen: Erst vor wenigen Tagen wurde ein neunjähriges Kind am Neuen Pferdemarkt angefahren.

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