Rente für Arbeit im Ghetto

■ Hamburger Sozialgericht entschied zugunsten zweier NS-Verfolgter / Noch 150 weitere Fälle / Richterin fordert Grundsatzurteil Von Silke Mertins

Fünf Jahre lang arbeitete Seva N. als Näherin in einer Textilfabrik im jüdischen Ghetto Lodz, bevor sie 1944 ins KZ Auschwitz deportiert wurde. Von ihrem Lohn wurden Abzüge einbehalten – für Steuern und Rentenversicherung, hieß es.

Als sie mit 65 Jahren – inzwischen in den USA lebend – einen Antrag auf Rente für die zwischen 1939 und 1945 geleistete Arbeit unter deutscher Besatzung einreichte, lehnte die zuständige Landesversicherungsanstalt (LVA) Hamburg ab. Begründung: Aus Zwangsarbeit könne man keine Rentenansprüche ableiten.

Zu Unrecht abgelehnt, entschied gestern das Sozialgericht Hamburg. Richterin Fuchsloch verdonnerte die LVA dazu, der inzwischen 70jährigen Seva N. Ruhestandsgeld für die Arbeit im Ghetto zu zahlen. Zwar sei es keine „Beschäftigung auf freiwilliger Basis aus der Sicht unseres Grundgesetzes“ gewesen. Doch nach der damaligen gängigen Auffassung könne die von Seva N. selbst gesuchte Arbeit nicht als Zwangsarbeit gelten.

Das Gericht sah es auch als erwiesen an, daß der Klägerin Beiträge vom Lohn abgezogen wurden. Diese seien aus „verfolgungsbedingten Gründen“ nicht an die Versicherungsanstalten weitergeleitet worden, könnten aber nach dem Gesetz als „entrichtet gelten“.

„Jeder Arbeitsfähige mußte arbeiten, oder er wurde deportiert“ hatte Margret Becker, Vertreterin der LVA, argumentiert. Und bei Beschäftigung „in einem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis“ gebe es eben keine Rente. Rund 150 ähnliche Fälle sind in Hamburg, etwa 1000 weitere bei anderen deutschen Versicherungsanstalten anhängig.

Auf Nachfrage der juristisch wie historisch hervorragend vorbereiteten Richterin zeigte sich jedoch, daß es der LVA nicht zentral um den Punkt Zwangsarbeit geht. Denn: Auch ehemalige polnische Zwangsarbeiter, die bei deutschen Bauern schuften mußten, bekommen Rente. Sie waren nämlich sozialversicherungspflichtig. Also geht es der Versicherungsanstalt nicht primär um die Freiwilligkeit der Arbeit, sondern um die nachweisliche Beitragszahlung.

Die Richterin folgte dem Antrag des Rechtsanwaltes der Klägerin, Manfred Herz. Für ihn ist entscheidend, daß Beiträge vom Lohn einbehalten wurden. „Dieses Urteil hat Signalwirkung“, freut sich Herz, der noch zahlreiche ähnliche Fälle gerichtlich vertritt.

Endgültig ist das Urteil allerdings nicht; die LVA wird Berufung einlegen. Angesichts der unterschiedlichen Handhabung der Versicherungsanstalten betonte die Richterin, daß „höchstrichterlich und schnell“ ein Grundsatzurteil herbeigeführt werden müsse. Um einen langwierigen Weg durch die Gerichtsinstanzen abzukürzen, schlug sie eine „Sprungrevision“ vor, also eine Verhandlung vor dem Bundessozialgericht als höchster Instanz. „Die Kläger sind alle sehr alt, und es sollte vermieden werden, daß sie den Ausgang des Verfahrens nicht mehr erleben.“