: Blutiger Wahnwitz in Blue
■ „Butcher Boy“: Neil Jordans genial-heiterer Film über Jugendkriminalität
Neil Jordans „Butcher Boy“ erzählt die Geschichte einer fortschreitenden Pathologisierung mit fast schon mathematischer Stringenz. Eigentlich ist der vorpubertäre Francie Brady nur ein hypervitaler Lausbub. Seine eher zart ausgeprägten sadistischen, ordnungsattackierenden Neigungen kann er mit dem Klau von Comic-Heften und Äpfeln ganz zufriedenstellen. Sanft verfettete Wangen straffen sich zu sonnigen Pausbacken.
Natürlich steuern Familie und Gesellschaft mit Disziplinierungsmaßnahmen gegen: Erst die Beschimpfung als „Schwein“ (ein harmloses Wort mit eklig-tragischen Konsequenzen), dann Schläge mit dem Gürtel, Erziehungsheim, Irrenanstalt. Das ist nicht gut. Denn Vergehen und Bestrafung schaukeln sich zielsicher auf wie Kraft und Gegenkraft in einer physikalischen Versuchsanordnung. Zumal Francie mit einem alkoholsedierten Vater und einer dauerplätzchenbackenden Mutter gestraft ist; zumal Francie auf seinem Marsch durch die Züchtigungsinstitutionen mit pralinen- und jungenvernaschenden Priestern und anderen gebräuchlichen Perversitäten konfrontiert wird.
Kalter Krieg, Horrorfilme und Metzgerlehre würzen diesen gärenden Seelenteig. Am Fast-Ende steht naturgemäß die Katastrophe in Form einer saftigen B-Picture-Metzelei. Doch ganz am Ende steht – entgegen allen kausalen Gesetzmäßigkeiten – der liebenswert schamhafte Versuch von Vergebung, Hoffnung, Neuanfang. Und eine Marienerscheinung. Utopie ist nicht das Auslöschen von Wahnwitz, sondern seine Befriedung!!!
Ein Selbstmord durch Ertränken, ein Verenden durch Leberzirrhose, ein Lustmord der besonderen Art: Hier handelt es sich um Todesarten, die nach lähmenden, schlurfigen Bildern geradezu – flüstern. Doch was tut Neil Jordan? Er überflutet seine irische Dorfwelt mit nostalgischem Blau. Er zeigt wunderbare Naturpanoramen mit See und hübsches Kopfsteinpflaster, als ginge es um eine Tom-Sawyer-Verfilmung. Das rasante Timing stünde einer Teenieklamotte nicht schlecht an. Und der Ton schwankt zwischen einer Karl-Kraus-Untergangsgroteske und Monty-Python-Brazil-Satire. Eine raffinierte, obskure Mischung, die geläufige Vorstellungen über Psychokiller gleich an zwei Fronten besiegt: Weder ist der Irre ein Monster noch ist er pc-mäßig ein armes, hilfloses Opfer.
Francie hat das große Unglück, in den 60er Jahren überzuschnappen. Da kann die obligatorische Schocktherapie natürlich nicht ausbleiben. Hunderte Male haben wir sie gesehen: Die tränenheischende Naheinstellung auf ein verzweifeltes Gesicht, das Anlegen der Elektroden, die Gegenwehr des Opfers, das Hochdrehen des Stroms, das Mutieren des Subjekts zum leidenden, zitternden Fleischberg: DAS Symbol schlechthin für die unendliche Grausamkeit aller Anpassungsbemühungen. Bei Neil Jordan ist alles ganz mutig anders. Das Zittern verwandelt sich in einen jauchzend- grotesken, barock-sinnlichen Totentanz. Selbst im Ärgsten wird Francie nicht Opfer, sondern bleibt selbstbestimmendes Subjekt, und sei's, daß er nur über seine Empfindungen selbst bestimmt.
Mit seinem fast altbackenen Prall-ist-das-Leben-Erzählstil arbeitet sich Neil Jordan vor zu ziemlich neuen Haltungen. Champions „Sweetie“ und Jacksons „Heavenly creatures“ waren Vorläufer. Daß die Dramen des Wahnsinns so spannend sein können wie die Dramen einer Autoverfolgung, kommt natürlich auch dem Spaß beim Zuschauen sehr entgegen. bk
Europa: 15h, 17.30, 20h, 22.45. / City: Orginalfassung 20h
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