: Christoph ist gut!
Für fünf Mark dem künstlichen Leben zuschauen und dabei krank aussehen: Christoph Schliengensiefs Neun-Tage-Nonstop-Kunstinstallation „Hotel Prora“ im Prater der Volksbühne ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Irgendwann, wahrscheinlich bei der Arbeit an seinem Rudi- Dutschke-Stück, entdeckte der Trashfilmer und Volksbühnenregisseur Christoph Schlingensief den, als der er gemeint war. Künstler, Volksheld, Demagoge, Freund der Erniedrigten und Unsichtbaren. Schlingensief als Dutschke war großartig, weil das Scheitern in seinem enthusiastischen Spiel immer präsent war. Weil er in einer Sprache sprach, deren Begriffe sich längst erledigt hatten und die so ein diffuses Mehr sagen konnten als stimmige Worte, die, gerade weil sie jenseits aller Peinlichkeiten funktionieren, nichts mehr meinen als sich selbst oder die Erstickungen der Kommunikations- Welt, die sie umgibt oder so. „Chance 2000“ und die vor ein paar Monaten gegründete Partei der letzten Chance (PLC) hat eigentlich nur einen Programmpunkt: „Ich bin da!“ Ich bin kein Fernseher. Die Ausgeschlossenen sollen zeigen, daß es sie jenseits aller Repräsentationsveranstaltungen gibt. Mittlerweile hat die PLC 16.800 Mitglieder und 172 Direktkandidaten.
1938 ließ die faschistische Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ Prora, „das Bad der Zwanzigtausend“ errichten. Am 15. Mai begann Schlingensiefs „Hotel Prora“ im Prater. Eine „9-Tage-Nonstop-Kunstinstallation“, bei der jeweils bis zu dreißig Gäste zwischen 30 und 90 Mark für die Übernachtung zahlen. Für 5 Mark sitzen Voyeure auf Bänken und schauen durch ein Gitter den Leuten beim künstlichen Leben zu. Im geisterbahngrünen Licht der morbiden Eingangshalle des Hotels sieht man unglaublich krank aus. Das Bühnenbild ist super! Im Pratersaal stehen große und kleine Zelte. Ein künstliches Lagerfeuer und die Diskokugel an der Decke sorgen für sanftes Chill- out-Licht.
Auf der Bühne leitet Schlingensief den Gründungsparteitag des Landesverbandes Brandenburg der PLC. Detlef Neuffert wird irgendwas. Christoph singt „Detlef Neuffert ist gut“. Dann das von Brecht entlehnte Parteilied: „Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend – Freund, Freund, Freund!“ Alle singen mit. Wunderbar. In minolfarbenen Overalls, mit Wasserpistolen in den Taschen, gehen die Hotelbediensteten durch den Saal. Der ORB ist live dabei. Schlingensiefs Leute filmen auch ständig. Achim von Paczensky kommt herein. Marschmusik. Alle singen: „Achim von Paczensky versorgt euch mit Getränken, Achim von Paczensky versorgt euch mit Getränken.“ Der Page Axel Silber wirbelt mutwillig durch die Gegend. Im Gegensatz zu den gläubigen Schlingensief-Verehrern sind die Behinderten in der Schlingensief-Familie souverän. Und spielen großartig. Draußen vor dem Hotel reden wir über Arbeitslosigkeit. Jürgen Kuttner ist über die Initiative glücklicher Arbeitsloser erbost. Das sei „pervers“, und zudem seien alle Studenten, die noch nie gearbeitet hätten. Arbeit sei Menschenrecht. – Irgendwie kommen wir nicht zueinander.
Ein Angestellter schimpft. Während die Hotelgäste auf „vollgepißten Matratzen aus dem Asylbewerberheim“ schlafen müßten, habe sich Schlingensief, der in einem Wohnwagen auf der Bühne übernachtet, eine Matratze für 280 Mark kommen lassen. Das sei doch alles eine Schlingensief-Propagandashow.
Im Saal hält Christoph Schlingensief eine agitatorische Rede, die er mit einem „herzlichen Dank!“ beendet. Dann tanzt er sehr schön mit Exstaatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt, einem der derzeitigen Chefideologen der Partei. Dietrich Kuhlbrodt ist mein Vater oder mein Onkel. Schön, daß es dich gibt! Ein bißchen komisch sei es schon, wie viele Leute das alles superernst nähmen, sagt er, und daß es inzwischen um „Christoph Schlingensief in Anführungszeichen“ gehe. Alex aus Frankfurt liest aus Rainald Goetz' Frankfurter Poetik-Vorlesung vor. Es ging um den Begriff des Scheiterns. Neue Bündnisse deuten sich an. Motte macht demnächst bestimmt auch mit. Ein bißchen fühlt man sich wie im Jugendzeltlager, im Kabarett, in einer Psychosekte. Chance 2000 ist eine seltsame Identitätsbewegung und Schlingensief ein großartiger Entertainer oder Mallorca-Urlaubs-Animateur. „Super!“ „Und jetzt alle – 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7!“ Leute hüpfen mit Chance-2000-Schildern im Saal rum. „Christoph ist wie Hitler“, sagt jemand, und daß er 150 Liebesbriefe am Tag bekomme. Christoph sagt, daß er eben mit Wolfgang Joop gesprochen habe. Der werde gleich vorbeikommen, wie vor ein paar Tagen. Joop kam dann doch nicht, findet es aber schön, daß sich junge Leute wieder für Politik interessieren. Er soll eine sechsstellige Summe gespendet haben. Sepp Bierbichler stiftete einen mit 20.000 Mark dotierten Theaterpreis.
Ununterbrochen wird man zugetextet oder redet selber. Toll! Alle sind prima! Als existentialistisches Simulationssurfing wirkt das alles auch ein bißchen krank. Um vier Uhr morgens spielt ein nacktes junges Mädchen mit einem nackten jungen Mann Federball. Das sieht aus wie ein FKK-Bild aus den zwanziger Jahren. Draußen will ein Vater, der gern mit seinen Kindern hier übernachten möchte, garantiert bekommen, daß eine Frau mit riesigen Brüsten und rasierter Möse, von der er gehört hat, nicht da sein wird.
In der schönsten Chance-2000- Hymne heißt es: „Wir wollen trauern, trauern, bis wir uns verstehen [...]. Wir wollen trauern, trauern, ein Leben lang. Wir sind allein. Wir sind allein.“ Das singt man dann als Fußballpunkhymne. „Ich war hier. Ich war Gast. Ich hab' mich bemüht, total schön zu sein“, hat jemand ins Gästebuch geschrieben.
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