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Ein Häusle unterwegs zum Leuchtturm

Eine Berliner Performancegruppe reist mit „Our house“ ins sibirische Tscheljabinsk  ■ Von Andrea Würdemann

„Kunst wird die Welt nicht retten, aber Kunst ist fähig zum Dialog.“ Mit diesem Zitat von Jukker beginnt das Informationsblatt des Tscheljabinsker Zentrums für Gegenwartskunst. Tscheljabinsk, Millionenstadt am Ural, erlangte traurige Berühmtheit als Zentrum der sowjetischen Atomindustrie. Tscheljabinsk 65, heute Ojorsk, war Standort der einzigen sowjetischen Plutoniumfabrik, vermutlich des größten militärisch-kerntechnischen Werkes der Welt. Ironischerweise hieß es „Majak“ – „Leuchtturm“.

Viel mehr weiß man im Westen nicht über die Region. Eine Stadt hinter den Bergen, die kurz aufglühte und wie Tschernobyl und Semipalatinsk zum Synonym für die Konsequenzen der Atompolitik geworden ist. Plattenbauten, Leninplätze und riesige Prospekte, die die schnell gewachsene Stadt durchschneiden. Menschen in Dörfern, die ihre Wäsche noch im Fluß waschen und dabei eine vielfach höhere Dosis an Strahlung abbekommen als ein Arbeiter in einem deutschen Atomkraftwerk. Einst leitete man die radioaktiven Abfälle einfach in den nächstgelegenen Fluß. Im Ojorsker Hotel kann man sich durch eine Digitalanzeige über die Strahlenbelastung informieren.

Wer hier aufgewachsen ist, weiß, daß man mit Kunst die Welt nicht retten kann. Aber sie hilft ein bißchen im Umgang mit dem herrschenden Irrsinn. So ist es nicht erstaunlich, daß eine der humorvollsten Musikperformance-Gruppen Rußlands aus Tscheljabinsk kommt. NXA – sprich: n-cha-a –, das Neue Künstlerische Ensemble, wurde vor mehr als zehn Jahren von dem Maler und Musiker Lev Gutovsky, dem Schauspieler Nikita Vazhenin und dem Multi-Instrumentalisten Sergej Belov gegründet. Ein Thema der Gruppe ist der Irrsinn, den sie in bester Dada- und Avantgardetradition mit Hilfe aller nur möglichen und unmöglichen Instrumente, mit Filmen, Tanz und Theater auf die Bühne bringt. Oder auch auf Husumer Bahnsteige. Das Versprechen, daß sie ihre Stücke überall aufführen können, bringt Veranstalter dazu, sich nach ungewöhnlichen Spielorten umzusehen. Inzwischen ist NXA auch in Westeuropa bekannt. Auch in Berlin. Der Berliner Mathias Gordon entdeckte die Gruppe 1994 auf einem Festival in der Schweiz und sorgte für die Kontakte. Und so konnte man NXA unter anderem im Tacheles, im Milchhof und im Fliegenden Theater sehen. Damit begann die Zusammenarbeit Berlin/Tscheljabinsk, in deren Rahmen inzwischen auch Berliner Künstler nach Tscheljabinsk fahren.

Kulturtreff oder Mafiosi-Disko?

Seit kurzem hat die Stadt einen festen Platz für Auftritte: Lev Gutovsky und NXA gründeten in einem alten Pionierpalast das Zentrum für Gegenwartskunst. Hier gibt es einen Konzertsaal, eine Ausstellungshalle und eine kleine Galerie, Produktions- und Übungsräume und sogar eine Gästewohnung. Die Schwerpunkte liegen bei konzeptioneller Musik, Free Jazz und bildender Kunst. Bekannte russische Künstler waren in den drei Jahren, die das Zentrum besteht, hier zu Gast. Aber auch Gruppen wie Laibach und The Young Gods fanden den Weg nach Tscheljabinsk. Vermutlich ist das Zentrum für Gegenwartskunst der einzige Ort im Umkreis von 2.000 Kilometern, wo man solche Konzerte hören kann. Deshalb befand das Moskauer Kulturministerium das Zentrum auch für besonders erhaltenswert – was bei den Verhältnissen in Rußland allerdings wenig nützt.

Die Künstler erhielten zunächst für fünf Jahre auf Probe die Nutzungsrechte. Geld gibt es keins. In den russischen Regionen ist selten Geld da, um die Arbeiter auszuzahlen, geschweige denn für Kunst. Und Sponsoren interessieren sich eher für Moskau und St. Petersburg. Schwierigkeiten gibt es hingegen viele. Die ortsansässige Mafia hat entdeckt, daß sich mit Diskotheken Geld verdienen läßt und der Pionierpalast dafür ein geeigneter Ort ist. Da gibt es natürlich einige Interessenten, auch in der Stadtverwaltung. Etwa den eingesetzten Geschäftsführer des Zentrums. Natürlich werden auch Diskotheken in Tscheljabinsk gebraucht. Doch es geht nicht um Kompromisse, sondern um Macht. Und so herrscht seit einiger Zeit unterschwelliger Kleinkrieg. Aber das Zentrum erfährt auch Unterstützung. Das Goethe- Institut zum Beispiel hat sich der Aktion Berlin/Tscheljabinsk wie auch des Kulturzentrums angenommen. Es ist wichtig, gegen die völlige Verödung des russischen Industriegebiets anzugehen. Und auch, daß man in Deutschland mehr Informationen über diese Region erhält als die ständigen Katastrophenmeldungen. In diesem Jahr wird Berlin/Tscheljabinsk fortgesetzt. Eine neunköpfige Performancetruppe, die unter anderen aus Uli Ertl, Nicholas Bumann, Benjamin Foerster-Baldenius und Sybille Hofter besteht, fährt mit „Our house“ nach Rußland. „Our house“ ist das Modell eines Modells: Die Vergrößerung eines Kibri-H0-Modellbausatzes im Maßstab 43,5:1. Das Haus ist bewohnbar. Der Bausatz besteht aus zehn, wie die Organisatoren versichern, flugs zusammensetzbaren Teilen. Die Inneneinrichtung bietet mit Telefon, Kühlschrank, Bett, Büchern, Monoblocksessel, was man zum Leben braucht. So konnte das Haus bereits für alles mögliche genutzt werden. Für die Performances der Baumeister, als Kulisse, zum Beispiel für das Berliner Kule- Theater, oder für eine Rave-Party auf dem Lande. Selbst der Senat für Bauen und Wohnen fand einen Verwendungszweck: Ein Foto des in Mitte an einem Baukran hängenden Modells wirbt in der Broschüre „Strategisch zum Eigentum“ für den Eigenheimbau.

Plattenbau als Kunstplattform

Am Dienstag wurde „Our house“ im Berliner Hauptbahnhof von einer gemischten Fußballmannschaft auf einen Güterwagen gesetzt und verabschiedet. Ein Teil der Truppe konnte danach noch ein mehrstimmiges Abschiedslied singen, eine Band spielte russische Musik, und auch der Haus-Architekt Foerster-Baldenius hielt seine Rede an das Publikum auf russisch. Nun soll das aufgebaute Modell mit der Bahn nach Tscheljabinsk fahren. Zehn Tage dauert die Fahrt. Die Künstlergruppe reist im Lastwagen nebenher. Eigentlich wollte man in Moskau eine Pause einlegen und sehen, wie die Hauptstädter auf das Haus reagieren. Aber da sind die russischen Zoll- und Einfuhrbestimmungen vor, durch die ein Zweitageaufenthalt leicht zum längeren Urlaub werden kann. Also geht die Reise direkt nach Tscheljabinsk. „Our house“ wird dort in der Nähe eines der beiden Lenindenkmäler aufgestellt und als Proben-, Informations- und Aufführungsort genutzt. Die Berliner zeigen unter anderem einen Animationsfilm über einen Friseursalon in Mecklenburg, in dem das Mobiliar ein Eigenleben bekommt – deutsche Volkskunde tief in Sibirien.

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