piwik no script img

Markus L.s weiche Landung nach dem Sprung

Im niedersächsischen Glandorf haben die Bürger eine Abneigung gegen Gummihandschuhe und viel Übung mit „begrenzter Regelverletzung“ entwickelt. Davon profitiert ein junger Kurde, der auf abenteuerliche Weise seiner Abschiebung entkam und dem Fußballclub erhalten blieb  ■ Von Bettina Markmeyer

M arkus hat Mathe. Sein Klassenlehrer wandert zwischen den Tischen herum, die 10b rechnet: 6 hoch 4 mal 25. Markus beugt sich über den Taschenrechner, stößt seinen Nachbarn an, flüstert mit den anderen. Eine normale fünfte Stunde, aber für ihn bedeutet sie mehr als Punkt- und Potenzrechnung. Niemand kontrolliert seine Haarlänge oder den Kragen seiner Schuluniform, er muß nicht antreten und die türkische Nationalhymne anstimmen. Markus war sechs, als er die zum letzten Mal singen mußte. Als gelehriger Sohn eines kurdischen Vaters hat er „es gehaßt“. Jetzt ist er fünfzehn, geht zur Realschule und will in Osnabrück das Abitur machen.

Die Abschiebung seiner Eltern, seiner fünf Brüder und seiner Schwester Emine hat nicht viel länger gedauert als eine Mathestunde. Nach neun Jahren und vier Monaten in Deutschland holten zwölf PolizistInnen und Beamte der Ausländerbehörde die kurdische Familie L. am 23. Januar mittags aus dem Kirchenasyl. Markus sprang aus dem Fenster des ersten Stocks auf das Flachdach des Pfarrbüros, von dort auf die Straße, schwang sich über den Jägerzaun und versteckte sich bei Bekannten auf dem Dachboden.

So entkam er seiner Abschiebung. Und weil ein halbes Dorf das Kirchenasyl als „begrenzte Regelverletzung“ unterstützt hat, kann Markus die Regeln für gemischte Rechenaufgaben vorläufig weiter auf deutsch pauken. In Mathe hat er, wie sein Klassenlehrer meint, „etwas nachgelassen, bedingt wohl durch die Ereignisse“. In Sozial- und Erdkunde hat der Flüchtlingsjunge aus der Nähe von Sirnak, tief im Südosten der Türkei, eine Eins. Wenn er mittags von der Schule kommt, läuft er jetzt nicht mehr zur alten Dorfschule, wo er mit seiner Familie gewohnt hat, sondern zum Anwesen neben der ehemaligen Mühle. Seine neuen Wahlverwandten heißen Magdalene und Martin Kürten, Markus, Andrea und Sebastian.

Als die kurdische Familie L. Anfang 1989 für die Dauer ihres Asylverfahrens der Gemeinde Glandorf im Landkreis Osnabrück zugeteilt wurde, hatte sie das typische Schicksal von Vertreibung und Flucht hinter sich. Markuss Vater sympathisierte mit der PKK, war mehrfach verhaftet und gefoltert worden. Die L.s mußten ihr Dorf verlassen. „Das ist so, als wenn Soldaten hier in die Bauernschaften kämen und sagen würden: Packt eure Sachen und seht zu, wo ihr unterkommt. Wenn ihr freiwillig geht, zünden wir eure Häuser nicht an“, erklärt Markus im altdeutsch eingerichteten Wohnzimmer der Kürtens. Obwohl er nur zwei Jahre älter und einen Kopf kleiner ist als der dreizehnjährige Markus, wirkt er neben ihm erwachsen. Als ältester Sohn hat er für seine Eltern gedolmetscht, Behördengänge, Termine beim Anwalt und Einkäufe gemacht, mit seinem Vater PKK- Treffen besucht und für seine Mutter auf die Geschwister aufgepaßt.

„Ich habe den Eindruck, manche neue Freiheit bei uns genießt Markus auch“, sagt Magdalene Kürten. Selbstgemachte Pizza, Feten im Dorf, mehr Zeit für Fußball. Was Markus denn nun sei, ein Gast, ein Freund, ein Bruder? „Vielleicht ein Pflegebruder“, schlägt der achtjährige Sebastian ein wenig verlegen vor. Seine Mutter grinst, für sie ist Markus „einfach einer mehr“. Magdalene Kürten (38) ist Hausfrau, ihr Mann Martin (42) Schichtführer in einem Arzneimittelwerk. Die Arbeitskollegen im Betrieb hatten ihn „für bekloppt“ erklärt. „Mensch, da kriegste doch nichts dafür.“ Die Kürtens kriegen tatsächlich nichts, sie zahlen Markuss Unterhalt, legen die Spenden für ihn auf die hohe Kante und verlieren möglichst wenig Worte darüber. Für die Entscheidung, L.s Ältesten aufzunehmen, „haben wir nicht lange gebraucht“, sagt Martin Kürten. Ein paar Stunden – bis sie wußten, daß Markus der Polizei entkommen war und Hilfe brauchen würde.

Für ihn und seine Frau ist es keine Frage, daß sich ihre Glaubwürdigkeit als Katholiken auch am Umgang mit den Asylsuchenden im eigenen Dorf mißt. Das sehen viele so in Glandorf, wenn auch nicht alle: Die CDU-Mehrheit im Gemeinderat verhinderte eine überparteiliche Protestnote gegen die Abschiebung.

Die Kürtens hätten Markus genauso geholfen, seinen Eltern in die Türkei nachzureisen: „Das mußte er entscheiden.“ Markus entschied sich für Glandorf. Und zog zu den Kürtens in ein eigenes Zimmer mit Blick auf den Gemüsegarten, in dem sich Magdalene Kürtens Vater zu schaffen macht. Der 86jährige schrieb nach der Abschiebung einen wütenden Brief an Christian Wulff, den niedersächsischen Vorsitzenden seiner Partei, der CDU, die bei Wahlen im katholischen Glandorf 70 Prozent der Stimmen erhält. Dann verkaufte er sein letztes Mastschwein. Seit Markus da ist, gibt es Rind, Pute oder Kaninchen.

Seit Markus da ist, hat sich überhaupt einiges verändert. Andrea soll in der Schule berichten, wie es seiner Familie in der Türkei ergeht, und kann doch nicht einmal sagen, wo die L.s jetzt sind. Sebastian fragt beim Abendbrot plötzlich, ob das Folter ist, wenn einer einen anderen mit der Peitsche schlägt. Er hat das in einem Winnetou-Film gesehen. Markus hat in Markus einen weiteren eingefleischten Bayern-Fan gefunden, der mit ihm Dart-Pfeile auf das Mannschaftsfoto von Borussia Dortmund wirft. Magdalene Kürten will sich einen Scanner anschaffen, um die Glandorfer Zeit der L.s und die Abschiebung zu dokumentieren.

Die Asylanträge aller Familienmitglieder waren rechtskräftig abgelehnt. Auch Petitionen an Land- und Bundestag mit 1.400 Unterschriften aus dem 6.590 Einwohner zählenden Glandorf hatten nichts ausrichten können. Also hatte sich die katholische Gemeinde in Glandorf mit dem Pfarrer auf die Gewährung von Kirchenasyl verständigt. Am Abend des 22. Januar brachte Magdalene Kürten Markuss Familie kurz entschlossen ins sicher geglaubte Pfarrhaus im Ortsteil Schwege. Am nächsten Abend war die kurdische Familie abgeschoben – bis auf Markus.

Die Verbitterung der Glandorfer über den Einsatz fand ein Symbol: die Gummihandschuhe der Polizistin Renate Gausmann, mit denen sie die L.-Kinder zu dem wartenden Bus führte. Der Glandorfer Pfarrer und sein Kaplan wetterten in ihren Predigten am folgenden Sonntag so deutlich gegen die „unmenschliche“ Behandlung von Flüchtlingen und die Beamtin mit ihren Handschuhen im besonderen, daß der CDU-Bürgermeister zornig das Hochamt verließ.

Eine Dienstvorschrift über das Tragen von Handschuhen gibt es nicht für niedersächsische Polizeibeamte, wohl aber Empfehlungen zur „Eigensicherung“. Ein Einsatz ohne Handschuhe, sagt Renate Gausmann, die seit 25 Jahren bei der Polizei ist, wäre „das gleiche, als wenn ich ohne Dienstwaffe rausfahren würde“. Sie hat an über zwanzig Abschiebungen teilgenommen, für den Einsatz gegen die L.s hatte man sie von ihrer Polizeidienststelle in der Nähe von Osnabrück nur widerwillig eingeteilt, um keine Glandorfer KollegInnen hinschicken zu müssen. „Meistens“, sagt Renate Gausmann, „stehen die Leute ja schon mit gepackten Koffern da.“ Aber die L.s hatten nichts gepackt. Sie saßen wie gelähmt auf dem gefliesten Küchenfußboden im Pfarrhaus, umgeben von versteinerten Glandorfern und ihren Kindern, die sich von Mesut, Rasit, Zeyni, Emine, Tekin, Dellil und Markus verabschieden wollten. Mit dem Einverständnis der Polizei hatten Magdalene Kürten und ihre Helferinnen die Lehrer der Kinder, den Anwalt der Familie und den Pfarrer benachrichtigt, dann aus einem Kleidersack so etwas wie Reisegepäck zusammengestellt. Die Darstellungen über den Einsatz der Gummihandschuhe gehen auseinander: Renate Gausmann behauptet bis heute, sie angezogen zu haben, um beim Einpacken zu helfen. Die Freunde der L.s behaupten bis heute, sie habe sie angezogen, um die Kinder abzuführen. Für die 42jährige Beamtin war es der „unangenehmste Einsatz“ ihrer Laufbahn, der „ihr sehr nahe gegangen“ sei. Für viele Glandorfer ist sie die Personifikation eines Behördenapparates, der Ausländerkinder nur mit Gummischutz anfaßt. Renate Gausmanns Dienstherr, der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD), hatte am 22. Januar persönlich grünes Licht für die Abschiebung gegeben: Ein leerstehendes Pfarrhaus sei kein sakraler Raum, das Kirchenasyl folglich zu beenden. Es war die dritte Räumung eines Kirchenasyls in Niedersachsen.

Wenn sich Magdalene Kürten an die Szenen des 23. Januar erinnert, steigen ihr heute noch die Tränen hoch. „Man kriegt's nicht auf“, sagt sie und meint, daß mancher Kummer zum Runterschlucken zu groß ist. Markus durchwühlt derweil ohne sichtbare Regung einen Müllsack, zieht eine Maus aus Papier hervor, die sein jüngster Bruder Dellil bemalt hat, und stopft sie ratlos wieder zurück.

Darüber, was er vermißt, redet er nicht. So verschlossen er in eigener Sache ist, so offen ist sein Umgang mit der Familie Kürten und dem Dorfleben überhaupt. Er trainiert den Nachwuchs im Fußballverein, kickt mit der Thekenmannschaft des Heimatvereins und lästert über den Bierkonsum danach. Er selbst, witzelt er, denke da eher an die Nationalelf. Allerdings nicht an die türkische. Die Anspannung verschafft sich ein Ventil in seinem Bewegungsdrang, selbst wenn er im Sessel sitzt, scharrt er mit den Füßen und verfolgt alles und jeden mit hellwachem Blick.

Seit die Kürtens vom Landkreis Osnabrück die Zusage haben, daß Markus bis zu seiner Mittleren Reife nicht abgeschoben wird, kann er wieder zur Schule gehen. Für die Legalisierung seines Aufenthalts bis zum Abitur mußte der Unterstützerkreis nach Hannover fahren, zum Staatssekretär des Innenministers, „wir wären auch bis zu Glogowski gegangen“, sagt Martin Kürten. Den Platz an einem katholischen Gymnasium sichert das Bistum Osnabrück, denn Markuss Ausbildung darf keine Steuergelder kosten. Rechtlich haben Markuss HelferInnen nichts in der Hand, allein der öffentliche Druck zwingt die Behörden zum Nachgeben.

Gleich körbeweise hat Innenminister Glogowski Protestbriefe erhalten: Sieben L.-Sprößlinge, das macht sechs Schulklassen an drei Schulen, ein Kindergarten und diverse Tischtennis- und Fußballmannschaften des Blau-Weiß Schwege in Glandorf. Da kommt was zusammen. „Verärgert und enttäuscht“ erklärte der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode, „von der Abschiebung der Familie L. völlig überrascht worden“ zu sein. „Einen derartigen Fall“ habe es „bislang im Bistum Osnabrück nicht gegeben“. Woraufhin Glogowski in einem Brief an den Bischof antwortete, daß es „das Rechtsinstitut des Kirchenasyls nicht gibt“, und den Bischof „herzlich“ bat, im Hinblick darauf, „daß bei uns im Lande die Kirchenasylbewegung besonders aktiv ist“, regelmäßig zu prüfen, ob „mit dem Kirchenasyl sorgfältig“ umgegangen werde.

Nach Auskunft der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche gewähren in Niedersachsen derzeit vermutlich 17 Gemeinden Kirchenasyl. Das Land schob im vergangenen Jahr 3.160 Menschen ab, davon 633 in die Türkei. Vor gut zwei Wochen durfte der Kurde Mehmet Ali Akbas, der nach seiner Abschiebung von der türkischen Polizei verhört und gefoltert worden war, wieder nach Niedersachsen einreisen. Bis April 1998 sind weitere 1.296 Flüchtlinge aus diesem Bundesland abgeschoben worden.

1.297 wären es jetzt, hätte die Polizistin Renate Gausmann am 23. Januar im Glandorfer Pfarrhaus nicht Markus L. aus den Augen verloren. Nun wird er hier in ein paar Jahren Abitur machen. Dann ist er 18 Jahre – so alt wie Renate Gausmanns Sohn Achim jetzt. Als der die Berichte über die Glandorfer Abschiebung in der Zeitung las, wollte er von seiner Mutter wissen, „was da abgelaufen ist. Er hat mich zwar irgendwie verstanden“, erzählt Renate Gausmann, „aber er hat auch diesen großen Jungen verstanden, den Markus.“ Am Ende sagte Achim Gausmann zu seiner Mutter: „Ich wäre auch abgehauen, Mama.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen