: Hotel Neuer Mensch
■ Jutta Heinrich schickt ihre jüngste Heldin auf eine „Unheimliche Reise“
In der Literatur ist der künstlich erschaffene Mensch nichts Neues. Das Ur-Monster Frankenstein, die Alpha-, Beta- und Gamma-Klone aus Brave New World haben Millionen von Lesern entsetzt. Doch mittlerweile haben die technischen Fortschritte der Wirklichkeit die schriftstellerischen Fiktionen fast eingeholt. Das Schaf Dolly beispielsweise, das eine identische Schwester hat, ist eine der Realitäten, die weitere Visionen überflüssig erscheinen lassen.
Jutta Heinrich nähert sich dem Thema in ihrem jüngsten Roman Unheimliche Reise von einer ganz anderen Seite. Auch wenn sie wiederholt auf Mary Shelleys Frankenstein anspielt: Ein neues Schreckensszenario entwirft die in Hamburg lebende Autorin nicht. Souverän entfaltet sich das Drama auf der Ebene der Gefühle, ausgehend von der uralten Angst des Menschen, die Mutter zu verlieren.
Schon der Anfang des Buches wirft Fragen auf: Eine Frau geht auf eine ziellose Reise. Weil sie eine „unerklärliche Sinnesstumpfheit“ in sich fühlt, beschließt sie, sich ihren Lebensgewohnheiten für eine Weile zu entziehen. Genaueres erfährt man über die Heldin nicht. Scheinbar zufällig endet die Reise in einer Kleinstadt, deren Bewohner sich rätselhaft schweigend und abweisend geben. Fast aus Trotz beschließt sie zu bleiben. Das Hotel scheint leer zu sein, ist aber ausgebucht – von Wissenschaftlern, die in einer Klinik über der Stadt arbeiten, so ist zu vermuten. In der Nacht hört die Heldin Frauenschreie, später findet sie Büschel von Tierhaaren – und sie schöpft Verdacht, beginnt, sich ins Ungewisse vorzutasten. Ein Schleier wüster Irrealitäten liegt über der Stadt, und stets bleibt die Wahrheit nur zu erahnen.
Bestechend realistisch, fast alltäglich, beschreibt Jutta Heinrich die Nachforschungen in der Unheimlichkeit. Anflügen von Pathetik entgeht sie durch feine Ironie. Mit der wiederholten Heraufbeschwörung von Kafkas Verwandlung allerdings wird Jutta Heinrich ein bißchen zu deutlich. Die Geschichte entwickelt einen Sog, der verkopfte Verweise überflüssig macht: Die Angst vor Normalität in einer Welt, die selbst verrückt geworden ist, das irrsinnige Entsetzen wird plastisch nachvollziehbar.
Sabine Claus
Jutta Heinrich: „Unheimliche Reise“, Europäische Verlagsanstalt Hamburg 1988, 209 Seiten, geb., 36 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen