Feuchtwanger mißverstanden

■ betr.: „Der Jud muß hängen!“, Po litisches Buch, taz v. 19. 5. 98

Jud Süß – die meisten Menschen, zumal in Deutschland, wissen mit diesem Namen nicht mehr zu verbinden als die antisemitische Vorstellung vom geldgierigen, frivolen Juden. Andrea Goldberg nimmt in ihrer Rezension zu Hellmut Haasis' jetzt vorgelegter Biographie des Joseph Süß Oppenheimer Bezug auf den nationalsozialistischen Propagandafilm von Veit Harlan „Jud Süß“ und den gleichnamigen Roman des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger. Sie schreibt, Jud Süß sei „weder der Goebbelssche Dämon noch der skrupellose Ausbeuter aus Feuchtwangers Erzählung“.

Das zu lesen tut mir in der Seele weh. Feuchtwanger hat in seinem Roman „Jud Süß“ keinen „skrupellosen Ausbeuter“ beschrieben, sondern die Charakterstudie eines mächtigen wie ohnmächtigen Juden gezeichnet, eines jüdischen Menschen unter christlichen Deutschen, im Spannungsfeld der Gefühle von Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Anerkennung, Haß, Verzweiflung, Minderwertigkeitsängsten, bitterem Triumph und totalem Rückzug in depressive Trauer. Mir ist wohl bewußt, daß der Artikel von Frau Goldberg sich mit dem von ihr gelobten Buch von Haasis beschäftigt. Aber diese eine Formulierung, gleich zu Beginn der Rezension, setzt unreflektiert fort, was einer der zynischsten Erfolge der Nazipropaganda war und bis heute offenbar geblieben ist, nämlich Feuchtwangers Roman und Harlans Hetzfilm nebeneinanderzustellen, quasi gleichzusetzen. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels und NS-Filmemacher Veit Harlan benutzten Lion Feuchtwangers Roman – selbstverständlich, ohne den jüdischen Autor zu nennen – als Drehbuchvorlage und entstellten das Werk total. Wichtig war, daß der Titel des Romans „Jud Süß“ auch der Titel des Films war. Warum was das so wichtig? Nun, weil Feuchtwangers Roman zu der Zeit als Welterfolg bereits vorlag. Das Buch kam 1925 heraus, acht Jahre vor dem Beginn der Hitler-Regierung. Die millionenstarke Auflage erschien in 33 Sprachen! Feuchtwanger schrieb seinen „Jud Süß“ vor dem Hintergrund des in Deutschland wieder bedrohlich zunehmenden Antisemitismus. Goebbels und Harlan nicht allein, sondern den unreflektierten Vergangenheitsängsten der deutschen Leserschaft ist es zuzuschreiben, daß mit Feuchtwangers „Jud Süß“ allgemein antisemitische Hetze nach deutschem Muster verbunden wird. Drum liest es kaum noch jemand. Feuchtwangers Buch ist kein solches Machwerk, es analysiert vielmehr die antisemitische, deutsch-christliche Gesellschaft. [...] So geschrieben, daß ich es in zwei Nächten und einem Tag durchgelesen habe. Viola Roggenkamp, Hamburg