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No Future, Sarajevo

Drei Jahre nach dem „Tag, an dem der Strom wieder angestellt wurde“, ist die bosnische Hauptstadt rockmusikalisch gesehen immer noch ein Kaff. Das Land hat über die Stadt gesiegt: An die Stelle des urbanen Rock tritt volkstümliche Musik namens „Turbo-Folk“  ■ Von Rüdiger Rossig

Das „Bock“ ist eine dieser Kellerkneipen, in die Leute, die auf Rockmusik stehen, in jeder Stadt früher oder später hineinlaufen. Der Eingang zu dem Laden – offiziell das Club-Lokal des Billard- Verbands von Bosnien-Herzegowina – befindet sich in einer versteckten Seitenstraße neben dem „Haus der Partisanen“, das heute nur noch „Sporthalle“ genannt wird. Und obwohl es somit eigentlich im absoluten Zentrum der bosnischen Hauptstadt, gleich neben der Präsidentschaft, liegt, ist wohl noch keiner der Herren, die dort jeden Tag ihrer Arbeit nachgehen, je im „Bock“ gewesen. Nermin Dedic oder „Fico“, wie ihn hier alle nennen, ist Stammgast im „Bock“.

Tatsächlich vergeht kaum ein Abend, an dem der lange, dünne 36jährige mit der Brian-Jones-Frisur nicht auf der winzigen Bühne in der Ecke steht, gleich neben dem WC. „Ich spiele Musik, seit ich fünfzehn bin“, erklärt Fico, „in erster Linie bin ich Bassist, aber wenn nötig, spiele ich auch gerne Gitarre.“

Der „Pinball Wizard“ wird Münzwerfer

Das ist Understatement: Tatsächlich gilt Nermin Dedic unter Kennern als einer der besten Basser Exjugoslawiens, als hochtalentierter Autor nicht nur von Pop-Songs, sondern auch von Filmmusiken und Werbespots. Zudem ist Fico seit Mitte der achtziger Jahre ein transjugoslawischer Star. 1984 hat er mit Elvis J. Kurtovic & His Meteors seine erste Platte aufgenommen – und einen Mega-Hit in der ganzen damaligen sozialistischen Föderation gelandet. Heute gilt Elvis J. Kurtovic als die Gründerband der „Neuen Primitiven“, einer speziellen Sarajevoer Variante des New Wave.

„Wir haben versucht, die Art, in der die Leute hier, in Bosnien und in Exjugoslawien leben, in unsere Art, Rockmusik zu spielen, aufzunehmen“, sagt Fico. „Das lief natürlich in erster Linie über die Texte, aber nicht nur...“ Die vier Mitglieder von Elvis J. Kurtovic haben – unter anderem – Pete Townshends „Pinball Wizard“ auf balkanische Verhältnisse übertragen: Das bosnische Pendant zu Tommy, dem tauben, stummen und blinden Jungen am Flipper ist ein arbeitsloser und am Ende verlierender „König der Münzwerfer“. Dazu dudelt – neben Ficos Bass und den konventionellen Instrumenten einer Rockband – ein Synthesizer Folk-Sounds. Die Band kleidete sich bewußt „gewollt und nicht gekonnt“ – die typisch balkanische, billige Kopie des durch Fernsehen und Verwandtenbesuche geformten westlichen Rock-'n'-Roll-Ideals.

Das war damals, noch vor dem Krieg, der sich trotzdem bereits ankündigte. „Eigentlich begann alles damit, daß wir versuchten, uns den zunehmenden Primitivismus um uns herum zu erklären“, meint Fico heute. „Die New Primitives sollten ein Spiegel sein, in dem die Spießer und Bauern in Bosnien und ganz Jugoslawien sich selbst wieder erkennen sollten – in ihrer ganzen Lächerlichkeit. Wir haben gehofft, daß sie sich durch das Lachen über sich selbst verändern würden...“

Mitte der Achtziger war Rock 'n' Roll im sozialistischen Jugoslawien ein einträgliches Geschäft. Im Gegensatz zu den anderen Ländern Osteuropas hatte die Kommunistische Partei hier nie Kampagnen gegen die „westliche Dekadenz“ (die ja angeblich im Zuge dieser Musik über die Jugend hereinbricht) gefahren. Im Gegenteil: Bereits in den späten Sechzigern verfügte die jugoslawische Föderation über ein gut ausgebautes System von Clubs, Veranstaltern und Plattenfirmen. Festivals wie die vorher dem Schlager gewidmete jährliche Ausscheidung in Subotica/Vojvodina oder das Festival in der Arena von Pula/Istrien bestimmten seit den Siebzigern jedes Jahr aufs neue, wer als nächstes sein Vinyl staatlich gefördert auf öffentlichen Plattenfirmen wie Jugoton (Zagreb) oder RTB (Radio-TV Belgrad) herausbringen durfte. Zudem hatten in den Siebzigern erfolgreiche Musiker ihr Geld in eigene, private Studios und Plattenfirmen gesteckt – was Wunder, daß noch 1991, als der Krieg auf dem Balkan begann, über 600 Rockproduktionen in sechs jugoslawischen Republiken erschienen. Amir Misirlic erinnert sich gut an diese Zeit, kurz vor Kriegsbeginn. „Alles begann damit, daß die Leute immer mehr etwas sein wollten, was sie nicht waren“, sagt der langjährige Kulturredakteur der Sarajevoer Tageszeitung Oslobodenje. „Im Grunde taten sie also genau das, wovor die New Primitives sie gewarnt hatten.“ Misirlic (36) hatte vor dem Krieg für Jukebox und Rok, die beiden größten jugoslawischen Musikmagazine, geschrieben.

Exodus der Rock'n'Roller

„Man darf nicht die bittere Tatsache vergessen, daß auf die Menschen hier in Sarajevo geschossen wurde“, sagt er heute. „Das schließt natürlich Musiker mit ein – viele von ihnen wurden im Krieg verwundet, einige getötet.“

Misirlic ist sich sicher, daß keine Berufsgruppe Sarajevo in so großer Prozentzahl verlassen hat wie Musiker. „Bei Kriegsende war die Szene physisch wie leergefegt – ein paar Musiker sind getötet worden, die anderen hatten Sarajevo verlassen, weil sie nicht am Krieg teilnehmen wollten oder konnten. Oder weil sie es einfach nicht aushielten.“

Nach vier Jahren Krieg und Flüchtlingselend sind rund 70 Prozent der Menschen, die in den städtischen Zentren Bosniens leben, in ländlichen Regionen aufgewachsen. Die wenigsten von ihnen hören Rockmusik. Unter den Neuankömmlingen ist eine mit Techno vermischte Variante balkanischer Volksmusik angesagt: der sogenannte Turbo-Folk. Ob in Belgrad, Sarajevo oder Zagreb – überall in Exjugoslawien haben die Turbo- Folk-Fans ehemalige Rock-Diskotheken gekauft und ihrem Geschmack gemäß umgebaut.

Gimme dat Sarajevo feeling...

Private Plattenfirmen, die noch 1990 heißhungrig nach neuen Heavy-Metal-Bands gesucht hatten, haben sich auf den neuen Folk- Hype eingestellt. Tonträger mit Rock'n' Roll produzieren in Bosnien höchstens noch alternative Radiostationen. Es grenzt an Zweckoptimismus, wenn Journalist Misirlic heute, zwei Jahre nach Kriegsende, gute Chancen für eine Renaissance der Sarajevoer Rockszene sieht: „Ein paar Leute sind zurückgekommen“, zählt er auf, „und gleichzeitig haben während des Krieges eine Menge Kids angefangen zu spielen. Okay, sie sind eigentlich vor ihrer Zeit ins kalte Wasser geworfen worden, aber so ist das eben: wie wenn man einem Kind das Schwimmen beibringt – irgendwann muß man es eben einfach reinwerfen.“ Eine dieser musikalischen Kriegsgeburten ist die Punkband Protest. Mit ihrem Song „Sarajevo Feeling“ sind sie auf „Rock unter Belagerung“, der ersten im unabhängigen Bosnien-Herzegowina 1993 herausgegebenen CD vertreten (erschienen 1993 bei Radio Zid). Im September letzten Jahres waren die drei Jungs Vorgruppe von U2.

„Es war schon ein irres Gefühl, vor 50.000 Leuten zu spielen“, sagt Bassist Emin Voloder (26). Doch dem Langehaarigen in der abgewetzten Jeans und der ausgewaschenen (U.S.)Army-Jacke ist der Erfolg nicht zu Kopf gestiegen – Emin hat keine Ilusionen über seine Zukunft als Rockmusiker in Bosnien: „Das Umfeld hier bietet dir nicht die Möglichkeit zu sagen: So, in den nächsten eineinhalb Jahren bringe ich zwei Platten heraus, und davon kann ich leben.“

Dabei gehören Protest mit Sicherheit zu den erfolgreicheren, bekannteren Bands in Bosnien – und außerhalb. Bereits 1993 haben die vier Musiker in Prag gespielt. Seitdem waren sie unter anderem in Berlin (als Gäste der Initiative „Berliner Bands für Bosnien“), im kroatischen Pula, in Slowenien und München.

Das Problem ist, daß sich die einheimische Szene durch den Krieg und die Folgen drastisch verändert hat. Der Zusammenbruch Jugoslawiens hat der Rockszene in den Nachfolge-Kleinstaaten den ehemals gemeinsamen Markt genommen. Hatten die Bands der Achtziger die Möglichkeit, in allen größeren Städten der Föderation zu spielen, so brauchen Protest heute für alle Staaten außer Kroatien ein Visum. Und von den vier, fünf größeren Ortschaften im ethnisch geteilten Bosnien kann niemand leben. „Mit Rockmusik kann man hier kein Geld mehr verdienen – was hier heute läuft, ist Volksmusik“, erklärt Bassist Emin deprimiert, „das Publikum für Rock'n' Roll hat Bosnien verlassen. Vor dem Krieg gab es hier Punks und Hippies, Rock und Skinheads, heute fühlst du dich wie ein Außerirdischer, wenn du eine zerlöcherte Jeans anhast.“

Tausche Proberaum gegen Verstärker

Sarajevo, das einmal als „Rock- 'n'-Roll-Hauptstadt des Balkans“ galt, hat zur Zeit an Auftrittsmöglichkeiten ganze zwei Kneipen anzubieten. Saiten, Plektrums oder Schlagzeugstöcke gibt es in einem einzigen Laden – zu Preisen, die in Westeuropa kein Mensch zahlen würde. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 350 Mark monatlich, die Arbeitslosigkeit um die 60 Prozent. Und von Plattenverträgen, die sich für Musiker auch auszahlen, können Bands wie Protest nur träumen.

Immerhin: Emin und seine Band haben vor einigen Monaten, nach knapp sieben Jahren, einen eigenen Proberaum gefunden. „Bisher mußten wir immer mit anderen Bands teilen“, berichtet der Basser, „den Proberaum, das Equipment, alles nach dem Motto: Du hast ein Schlagzeug, aber keinen Verstärker, jemand anderes hat einen Verstärker, aber keine Drums.“ Der neue Proberaum befindet sich im Klub der medizinischen Fakultät der Universität von Sarajevo, den irgendwer einmal besonders phantasievoll „Kuk“ (Becken) benannt hat. Im zweiten Stock des Gebäudes hat die Hilfsorganisation Community Music Sarajevo (CMS) ein Studio und mehrere Proberäume ausgebaut. Zudem haben CMS eine PA, eine Verstärkeranlage für Live-Auftritte, nach Sarajevo gebracht – und so das Monopol des bisherigen kommerziellen Anbieters in der bosnischen Hauptstadt gebrochen, der bis zu 5.000 Mark am Abend für seine Dienste genommen hatte. Das CMS-Studio im Kuk bietet Rock- oder Jazz- Bands auch die – neben dem elitäreren Pavarotti-Studio in Mostar – erste nichtstaatliche und somit unzensierte professionelle Aufnahmemöglichkeit in Bosnien-Herzegowina. „PAs gab es früher für 150 Mark am Abend“, sagt Nermin Dedic alias Fico, „und Studios gab es in jeder Stadt an jeder zweiten Ecke.“ Er hat 1995 – „am Tag, an dem der Strom wieder angestellt wurde“ – wieder regelmäßig mit dem Spielen angefangen. Geld verdient hat er damit bisher noch nicht – vom Honorar für seinen Fernseh-Werbespot einmal abgesehen. „Was helfen uns zwei Studios und ein paar große Konzerte, wenn es selbst hier, in der Hauptstadt Sarajevo, heute keine einzige kleinere Halle mehr gibt, in denen neue Bands ihre ersten Gigs spielen können. Vor dem Krieg hatten wir ein Kulturzentrum, die „Kleine Skenderija“, wo es jede Woche mindestens ein Konzert gab. Das war unser Konktaktpunkt mit dem Rest der Welt und mit dem Rest Jugoslawiens, weil Bands aus allen möglichen Ländern dort spielten.“ Heute ist die „Kleine Skenderija“ eine Ruine, von Wiederaufbau ist keine Rede – „dafür spielen alle größeren Radiostationen ausländische Produktionen und Volksmusik.“ Die ausländischen Besucher bemerken von diesen Problemen nichts. Vor höchsten fünfzig Gästen verbreitet Fico immer noch dieselbe Stimmung, wie damals, vor dem Krieg. Nur spät abends, nach dem Gig und ein paar Bieren, packt ihn die Resignation: „Hier wird sich in absehbarer Zeit in Sachen Rock'n'Roll nichts tun, und wir Musiker wissen das. Aber wichtig ist, daß es überhaupt weitergeht.“

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