: Bibel & Marx
Befreiung von der Knechtschaft der Armut – mit dieser Maxime entstand in den sechziger Jahren in Lateinamerika die Befreiungstheologie. Die traditionelle Kirchenhierarchie hatte mit ihrer seelsorgerischen Aufgabe in den armen Bevölkerungsschichten versagt, davon waren Priester wie der Peruaner Gustavo Gutuiérrez und der Brasilianer Leonardo Boff überzeugt. Kirchliche Basisgemeinden wurden gegründet. Allein in Brasilien gab es in den achtziger Jahren etwa 150.000 dieser freiwilligen Zusammenschlüsse von ChristInnen.
Bis zu 30 Familien gehören zu solch einer Basisgemeinde, die sich im wesentlichen ohne priesterliche Betreuung organisieren und sozialpolitisch orientiert sind. Bibelauslegung und politisches Engagement, christliche Gemeinschaft und Einsatz für Gerechtigkeit gehören hier eng zusammen.
Die Herren des Vatikan bissen sich besonders an den marxistischen Prägungen der Befreiungstheologie fest. Leonardo Boff stand als prominenter Vertreter dieser modernen Theologie stets unter scharfer Kritik seitens des römischen Klerus. Im brasilianischen Petrópolis hatte er Philosophie und Theologie studiert. Von 1965 bis 1970 setzte er sein Studium bei Karl Rahner an der Universität München fort. Rückgekehrt nach Brasilien, engagierte er sich in den Basisgemeinden. Er lehrte als Professor für Systematische Theologie in Petrópolis, veröffentlichte kirchenkritische Texte und fiel schnell bei der Amtskirche in Ungnade.
Seit Anfang der siebziger Jahre wurde er wegen seiner „Irrlehre“ beobachtet, mehrmals verwarnt und bestraft. Im Mai 1985 wurde Boff für ein Jahr ein sogenanntes Bußschweigen auferlegt. Damit reagierte der Vatikan unter anderem auf Boffs scharfe Kritik an autoritären Strukturen der Kirche. Fortan wurden Boffs Veröffentlichungen vorzensiert.
Bis 1991 akzeptierte er die Maßregelungen. Dann verkündete er, den Kampf gegen die konservativen Kirchenhierarchien einstellen zu wollen. Er ließ sich in den Laienstand versetzen und trat aus dem Franziskanerorden, dem er als 20jähriger 1958 beigetreten war, aus.
Boff arbeitet jedoch weiter als Theologe. Die Universität von Rio de Janeiro richtete speziell für ihn eine Professur für Ethik und Philosophie ein. Wenn auch offiziell vom Priesteramt enthoben, spendet Boff in den Basisgemeinden weiterhin die Sakramente. Gemeinsam mit seinem Bruder organisiert er ein Straßenkinderprojekt, das unter anderem mehr als 4.000 Kindern täglich zu einer warmen Mahlzeit verhilft.
Unterstützt wird dieses Projekt, wie auch der Unterhalt von Schulen, durch einen großen Schweizer Chemiekonzern. Als Befreiungstheologe nicht gerade kapitalistisch eingestellt, hat Boff kein Problem mit diesem Gegensatz. Er versteht sich als Pragmatiker. Die Multis müßten in einem Land wie Brasilien einfach helfen, ein gewisses Niveau der Verelendung zu überwinden. ank
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen